„Es begann nicht am 7. Oktober" - Lagebild zur Negierung des 7. Oktober 2023
- JFDA
- 7. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Antisemitismus im digitalen Raum – sichtbar machen, verstehen, handeln.
In unserer Online-Monitoring-Reihe „Decoded: Hass im Netz“ zeigen wir, wie sich antisemitische Narrative und Stereotype online verbreiten. Wir analysieren, ordnen ein und machen deutlich, wie Antisemitismus im Netz wirkt.
Heute vor zwei Jahren, am 7. Oktober 2023, hat die Terrororganisation Hamas das Supernova Musikfestival und Kibbuzim nahe der Grenze überfallen. Mit mehr als 1200 Todesopfern war dies der größte Massenmord an Jüdinnen:Juden seit dem Holocaust. In unserem aktuellen Lagebild analysieren wir, wie der 7. Oktober instrumentalisiert, umgedeutet und negiert wird.
Umkehrung des 7. Oktober
In den sozialen Medien ist das Narrativ „Es begann nicht am 7. Oktober" weit verbreitet und wird gezielt eingesetzt, um israelisches und jüdisches Leid unsichtbar zu machen und durch eine klassische Täter-Opfer-Umkehr die Ereignisse des 7. Oktober zu negieren. Dies führt dazu, dass in sozialen Medien der 7. Oktober systematisch instrumentalisiert und als Akt des Widerstand verklärt wird.

Diese Bilder transportieren das Narrativ, man müsse sich gegen den eigentlichen Aggressor Israel mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Ziel ist es, die Terrorangriffe der Hamas am 7. Oktober 2023 zu relativieren oder zu legitimieren, indem sie als Reaktion auf eine vermeintlich seit Jahrzehnten andauernde israelische Gewalt dargestellt werden. Das Massaker an Israelis und Jüdinnen:Juden wird als Konsequenz statt als Terrorakt dargestellt und Israel als eigentliche Ursache des Konflikts konstruiert. Der 7. Oktober wird aus der moralischen Bewertung herausgelöst und in eine historische Kausalkette eingeordnet, die jede Verantwortung der Hamas negiert. Das Narrativ entlastet die Täter des 7. Oktober und dehumanisiert israelische Opfer, indem deren Leid in eine „historische Notwendigkeit“ umgedeutet wird.

Diese Beiträge stellen keinen legitimen politischen Diskurs dar, sondern sind Ausdruck von Gewaltverherrlichung, Täter-Opfer-Umkehr und Holocaustrelativierung. Unter Nutzung von NS-Analogien werden Terroristen zu „indigenen Befreiern” und israelische Zivilist:innen mit kolonialer Unterdrückung assoziiert. Der Holocaust wird semantisch umgedeutet, indem Jüdinnen:Juden in der Logik dieser Posts zu „Tätern eines neuen Holocausts“ stilisiert werden. Gezielt wird Massengewalt verharmlost und Terror als legitimer Widerstand normalisiert. Das Narrativ „Es begann nicht am 7. Oktober" dient zur moralischen Entlastung der Hamas.
Um Israel als kriminelles und illegitimes Gebilde darzustellen, werden die Sicherheitsinteressen und Ziele des Staates ignoriert bzw. als verlogen dargestellt.

Es wird das Narrativ eines angeblichen zionistischen Masterplans bemüht, der eine Kontinuität der Gewalt seit den Anfängen des Zionismus verfolge. Die Strategie, den Fokus von den Geiseln des 7. Oktober zu nehmen, soll israelisches Leid unsichtbar machen. Dabei kommt es gezielt zur Verhinderung von Empathie mit den Opfern sowie zur Erklärung der Täter zu Opfern. Die Gewalt vom 7. Oktober wird als Reaktion und nicht als eigenständige Gräueltat betrachtet. Der offenkundige eliminatorische Antisemitismus als Quelle der Massaker wird ausgeblendet.
Das Narrativ der palästinensischen Geiseln
Die Hamas hat am 7. Oktober mehr als 250 Geiseln genommen und nach Gaza verschleppt. Davon sind vermutlich noch 48 Personen in der Gewalt der Terroristen. Wie viele von ihnen noch leben oder bereits ermordet wurden, ist unklar.

Immer wieder werden die Geiseln einer Terrororganisation mit Häftlingen eines Rechtstaats verglichen. Dies führt zu einer klassischen Täter-Opfer-Umkehr, die das Leid der Geiseln negiert.
Das antisemitische Stereotyp „Juden lügen"
Im Zuge der Relativierung und Leugnung der antisemitischen Massaker vom 7. Oktober 2023, die als vermeintlich legitimer Widerstand gegen eine Kontinuität israelischer Gewalttätigkeit gerahmt und somit explizit ihrer menschenverachtenden Ideologie enthoben werden, werden in visueller wie textlicher Form Narrative verbreitet, die Israel bzgl. der Ereignisse des 7. Oktobers kollektiv der Lüge bezichtigen.
Diese Erzählung knüpft an das tief verwurzelte antisemitische Stereotyp des „lügenden Juden" an, das Jüdinnen:Juden seit Jahrhunderten eine kollektive Täuschungsabsicht und moralische Verkommenheit zuschreibt. Sie reiht sich somit ein in antisemitische Attributzuschreibungen, die Eigenschaften wie Unehrlichkeit, Betrug, Hinterlist oder Wucherei unterstellen. Das Motiv dient dazu, jede Aussage israelischer Akteur:innen – auch über nachweislich dokumentierte Gräueltaten – als Propaganda zu diffamieren.

Die Aktualisierung der antisemitischen Mythen im israelfeindlichen Milieu relativiert die Erinnerung an die Gewaltverbrechen des 7. Oktobers und verhöhnt somit die Opfer und deren Angehörigen. Konstruiert als manipulative Macht, werden „die Juden" als natürlich verlogen dargestellt. Indem eine kollektive Charaktereigenschaft des Lügens suggeriert wird, werden Israel und seine Bürger:innen als unehrlich essentialisiert. In modernisierter und national gerahmter Form knüpfen diese Vorstellungen unveränderlicher Wesensmerkmale an Argumentationsmuster des Rasseantisemitismus an. Die Umwegkommunikation über den Staat Israel dient hierbei primär der Abwehr von Antisemitismus-Vorwürfen, da die indirekte Äußerung entsprechender Ressentiments der öffentlichen Tabuisierung entgeht. Die Reproduktion des Lügenmotivs in humoristisch-popkultureller Form banalisiert und normalisiert darüber hinaus die Behauptung israelischer Unehrlichkeit und verfestigt somit antisemitische Narrative.

Leugnung von sexualisierter Gewalt am 7. Oktober
Das Desinformationsnarrativ, es habe keine sexualisierte Gewalt am 7. Oktober gegeben und entsprechende Berichte seien erfunden oder israelische Propaganda, dient der Delegitimierung von Zeug:innen, Ermittler:innen und Opferberichten. Dokumentierte Zeug:innenaussagen, forensische Beweise, internationale Berichterstattung sowie der UN-Bericht, die allesamt als Zeugnisse von sexualisierter Gewalt am 7. Oktober vorliegen, werden gezielt ignoriert und entwertet.
Die Behauptung der Lüge über die sexualisierte Gewalt als systematische Kommunikationsstrategie ist eine geschlechtsspezifische Fortschreibung einer antisemitischen Kontinuität, die jüdische Leidensdarstellungen grundsätzlich als übertrieben, manipulierend und täuschend deuten. Indem die sexualisierte Gewalt während der Massaker insbesondere Frauen traf, offenbart sich durch die moralische Verkehrung der Erfahrungen der Betroffenen eine Verbindung aus Antisemitismus und Misogynie. Diese doppelte Ausgrenzung wird beispielsweise durch die Hashtags #MeTooUnlessYouAreAJew oder #BelieveIsraeliWomen auf den Punkt gebracht.

Die Formulierung „Lies Exposed“ aktiviert Misstrauen gegenüber westlichen Medien und Institutionen. Konsument:innen werden aufgefordert, „hinter die Lügen Israels“ zu blicken. Erkennbar wird eine verschwörungsideologische Grundstruktur, der zufolge eine verborgene Wahrheit von einer kleinen Gruppe bewusst zurückgehalten werde. Anknüpfungspunkte an das antisemitische Narrativ einer angeblich allmächtigen, manipulativen jüdischen Einflussnahme auf Medien und Politik sind hierbei offensichtlich. Die Leugnung sexualisierter Gewalt wird somit zur politisch-ideologischen Verschwörungserzählung, die den Topos des „lügenden Juden", das Negieren jüdischen Leids und eine Schuldumkehr verbindet: Die primär weiblichen Opfer, deren dokumentiertes Leid als Beleg für grausamen Terror gelten muss, werden als Mitwirkende einer herbeifantasierten „zionistischen Manipulation" diffamiert.
Das Narrativ „Es begann nicht am 7. Oktober, sondern 1948"
Dieses Narrativ bezieht sich auf die Gründung Israels 1948 und stilisiert den Staat zum Kriegstreiber im Nahen Osten. Demnach hätte der Gaza-Krieg nicht durch den Überfall der Hamas begonnen. Vielmehr hätten Gewalt und Unterdrückung mit der Staatsgründung Israels ihren Anfang gefunden. Der Konflikt wird nicht als Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas verstanden, sondern als andauernder kolonialer Gewaltakt Israels gegen die palästinensische Bevölkerung seit 1948. Der 7. Oktober wird in dieser Logik nicht als Angriff gewertet, sondern als eine Episode im Widerstand gegen eine 77-jährige Besatzung verklärt. Damit rückt die Gründung des jüdischen Staates selbst in die Position eines „Ursprungsverbrechens“ und Anfang des Unrechts.

Historische Ereignisse werden dabei verdreht oder umgedeutet, um Israel als alleinigen, illegitimen Aggressor der Region darzustellen. Dies knüpft an antisemitische Darstellungen an, wonach „die Juden” genuin gewalttätig und zerstörerisch seien.
"There is only one state, Palestine 48"
Die Parole „There is only one state, Palestine 48” ist sowohl online als auch offline auf antiisraelischen Demonstrationen eine weit verbreitete Parole, die eine Rückkehr in die Zeit vor 1948 impliziert. Da Israel damals noch nicht existiert hat, wird mindestens latent die Auslöschung Israels gefordert. Die Parole gleicht einer Delegitimierung, die Israel das Existenzrecht abspricht. Durch die Betonung, es dürfe nur einen Staat geben, werden Initiativen, die auf die friedliche Koexistenz zweier autonomer Staaten setzen, verunglimpft.

Das Lagebild zeigt, dass das Narrativ „Es begann nicht am 7. Oktober“ den Terror der Hamas relativiert und legitimiert, indem es das Massaker als eine Reaktion in eine vermeintliche historische Kontinuität israelischer Gewalt einordnet. In sozialen Medien dient es als zentrales Desinformationsinstrument, das Täter-Opfer-Umkehr, Geschichtsrevisionismus und antisemitische Stereotype miteinander verknüpft.







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