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documenta15

4.2. Reaktionen der Verantwortlichen auf die Kritik

4. Kritik und Reaktionen

Die documenta15 reagierte frühzeitig auf die Kritik des BgA mit einer Stellungnahme, in der sie die angemahnten Kritikpunkte voreilig negierte. Darin heißt es:

„Die documenta fifteen unterstützt in keiner Weise Antisemitismus. Sie vertritt die Forderung der Freiheit von Kunst und Wissenschaft und unterstützt das Anliegen, Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, gewaltbereitem religiösem Fundamentalismus sowie jeder Art von Diskriminierung entschieden entgegenzutreten.“

Begleitet war dieses Bekenntnis von dem Versprechen, sich intensiv mit der geäußerten Kritik auseinanderzusetzen. Die Negation und Abwehr der sich häufenden Antisemitismusvorwürfe durch die beteiligten Künstler:innen und Verantwortlichen war in der Folgezeit maßgeblich durch eine kulturrelativistische Argumentation geprägt.


4.2.1 Das Argument des Kulturrelativismus

Taring Padi schrieb in einer Presseaussendung der documenta am 20. Juni 2022, dass die genannten Darstellungen auf ihren kulturspezifisch indonesischen Kontext der Militärdiktatur Suhartos bezogen seien und innerhalb dessen verstanden werden müssten. Zudem sei das Werk schon an mehreren internationalen Standorten ausgestellt gewesen und hätte im Zuge dessen nie den Vorwurf der antisemitischen Bildsprache auf sich gezogen. Taring Padi zeigte sich betroffen darüber, dass das Werk in dem speziell deutschen Kontext als beleidigend empfunden und anders gelesen werde, als intendiert gewesen sei. Sie würden die Verhüllung des Werkes und die Verletzung der Gefühle der Betroffenen bedauern, jedoch sollte das verhüllte Werk zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs werden.


In dieser Reaktion wird die Intention der Künstler:innen zur Abwehr von Antisemtismusvorwürfen herangezogen und gleichzeitig Antisemitismus durch ein kulturrelativistisches Argument relativiert, das diesen nur im spezifisch deutschen Kontext als problematisch behandelt. Dass die antisemitischen Darstellungen von Jüdinnen:Juden auf dem Banner bei etlichen Ausstellungen zuvor kein Aufsehen erregten, ist Grund zur Besorgnis. Hier zeigt sich, wie wenig das immanente Gewaltpotential des Antisemitismus wahrgenommen wird. Hinzukommend drängt sich folgende Frage auf: In welchem kulturellen Kontext ist die Darstellung eines Juden als SS-Führer und Soldaten-Schwein nicht antisemitisch?


Vier Tage später, am 24. Juni, veröffentlichte Taring Padi eine weitere Pressemeldung. Darin bedauerten sie die antisemitische Bildsprache und entschuldigten sich „insbesondere bei der jüdischen Gemeinde”. Die Darstellungen auf dem Banner seien nicht antisemitisch, sondern als Angriff auf die westliche Unterstützung der Diktatur Suhartos gemeint gewesen. Taring Padi schrieb weiter: „Wie viele unserer Kunstwerke versucht das Banner, die komplexen Machtverhältnisse aufzudecken, die hinter diesen Ungerechtigkeiten stehen.“ Was allerdings auf dem Banner abgebildet wurde, ist nicht die „komplexe Machtstruktur“ globaler Ungerechtigkeiten, sondern im Gegenteil die Vereinfachung dieser: Hinter allen Ungerechtigkeiten auf der Welt werden Jüdinnen:Juden vermutet. Auf die anschließende Kritik eingehend äußerte sich Bayu Widodo, Mitglied von Taring Padi, folgendermaßen: Das soll keine Darstellung des jüdischen Kapitalismus sein, sondern eine des Staates Israel. Bei israelbezogenem Antisemitismus findet eine Übertragung antisemtischer Ressentiments auf den Staat Israel als solchen statt. Wenn die teufelsartige Karikatur eines Juden mit SS-Runen am Hut den Staat Israel darstellen soll, ist genau dieses Kriterium gegeben. Der Versuch einer Entlastung des Antisemitismus unter Verweis, dass man „nur“ Israel gemeint habe, bei der gleichzeitigen Affirmation seiner Voraussetzungen („jüdischer Kapitalismus“), führt genau zur skizzierten Übertragung auf den jüdischen Staat.


Abschließend wies Sri Maryanto, ebenfalls Mitglied des Kollektivs, in einem Spiegel-Interview nochmals auf den kulturspezifischen Kontext hin, der keine antisemitische Lesart intendiert habe. Ferner merkte er an, dass sich das Kollektiv des besonderen deutschen Kontextes nicht bewusst gewesen sei. Ich dachte, dass man als Künstler gerade in einem Land, in dem Meinungsfreiheit herrscht wie in Deutschland, sich über mehr Grenzen hinwegsetzen darf, so Maryanto.


Auf das Argument des kulturspezifischen Entstehungskontexts des Werkes bezog sich auch die damalige documenta-Chefin Sabine Schormann. In ihrer ersten Pressemeldung nach dem medialen Aufruhr schrieb sie:

„Antisemitische Darstellungen dürfen in Deutschland, auch in einer weltweit ausgerichteten Kunstausstellung keinen Platz haben. Dies gilt ausdrücklich auch bei allem Verständnis für die Belange des Globalen Südens und die dort verwendete Bildsprache. Mit Respekt für die Unterschiedlichkeit der kulturellen Erfahrungsräume wird der mit der documenta fifteen begonnene Dialog weitergeführt.“

Schormann scheint davon auszugehen, dass die seit Jahrhunderten bestehenden antisemitischen Ressentiments, die ihre Ursprünge im christlichen Antijudaismus haben, von den „eigenen Erfahrungen“ Indonesiens ausgeklammert werden könnten. Schormann bezog sich weiter auf die künstlerische Verantwortung ruangrupas und äußerte sich erneut relativierend:

„Ruangrupa und die Künstler haben versichert, dass es keinen Antisemitismus geben wird. Das Problem ist, dass es aus ihrer Sicht keiner ist. Und an dieser Stelle liegt das Missverständnis. Sie haben ihre Aufgabe aus ihrer Perspektive wahrgenommen, und es ist ihnen aufgrund unserer unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume zu spät aufgefallen, dass ein solches Motiv in Deutschland absolut inakzeptabel ist.“

In einem öffentlichen Statement der documenta-Findungskommission zur Installation Taring Padis zeigte sich diese ebenfalls ausgesprochen versöhnlich. Sie fänden „die Präsentationen generös, zum Nachdenken anregend, lebendig und einladend.“ Die documenta15 biete „ein Bild einer Welt, die aus vielen Welten besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus.“ In dieser multiplen Welt gratulierte einerseits die Findungskommission „den Kurator*innen [...] als auch dem gesamten documenta Team zu ihrer herausragenden Leistung“ und zeigte sich andererseits im nächsten Satz „erschüttert über die Entdeckung von Karikaturen, die nicht anders als antisemitisch gelesen werden können.“ Die Aussprache von „Respekt für das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi und seinen langjährigen Kampf gegen die Unterdrückung und Diktatur während der Suharto-Jahre“ und die gleichzeitige Beteuerung, dass „Nazi-Karikaturen [...] keinen Platz in dieser Ausstellung haben“, erscheint wie ein Abwiegeln des Antisemitismus-Vorwurfs unter Berufung auf den kulturellen Hintergrund von Taring Padi. Die Verantwortlichen der Findungskommission sprachen in ihrer Pressemitteilung zum Antisemitismus-Skandal im Zuge der Ausstellung zudem von einem „vielstimmigen Prozess der Wahrheitsfindung und Ausssöhnung“, meinten aber damit nicht den Umgang mit denjenigen, die vom Antisemitismus betroffen sind, sondern das „Erbe des europäischen Kolonialismus“.


Die Reaktionen der Beteiligten auf den Antisemitismus-Skandal der documenta15 sind von einer Relativierung der antisemtischen Inhalte aufgrund des kulturspezifischen Kontexts der Werke durchzogen. Antisemitismus zeichnet sich jedoch genau dadurch aus, dass er als Bedrohung gegenüber Jüdinnen:Juden universell ist, unabhängig von kulturspezifischen Kontexten und in all seinen Erscheinungsformen. Einerseits zu betonen, dass kein Antisemitismus auf der documenta geduldet werde und andererseits im selben Atemzug den ausgestellten Antisemitismus als „Belange des Globalen Südens“ zu verharmlosen, stellt die Universalität des Antisemitismus in Frage, weshalb der Anspruch eines Dialogs merkwürdig anmutet. Antisemitismus von Personen aus dem „Globalen Süden“ durch kulturrelativistische Argumente zu relativieren, spricht diesen das Reflexionsniveau ab, Menschenverachtung in antisemitischen Darstellungen zu erkennen.


4.2.2. Kunstfreiheit vs. Antisemitismus

Was darf Kunst? Was darf sie nicht? Diese Fragen sind im Zuge des documenta-Skandals vielschichtig diskutiert worden und es wird deutlich, dass vor allem die Verantwortlichen der Ausstellung sich immer wieder auf die grenzenlose Kunstfreiheit, innerhalb derer man auch antisemitische Kunst ausstellen dürfe, bezogen.


Jörg Sperling, Vorsitzender des documenta-Forums, kritisierte die Entfernung des Banners „People’s Justice“ und äußerte sich dazu mit den Worten: „Eine freie Welt muss das ertragen“. Nach Ansicht Sperlings gehört zu dem, was die freie Welt ertragen muss, demnach auch ein übergroßes Banner, das menschenverachtende Darstellungen enthält. Ihm zufolge sei das Abhängen des Banners eine politische und keine künstlerische Entscheidung gewesen, wodurch dies als Zensur zu begreifen sei. Mit der Kuration der Ausstellung durch ruangrupa habe man sich bewusst dazu entschieden, eine andere Sicht auf den Kunst- und Kultursektor zu werfen. „Nun muss man auch aushalten, dass diese Menschen einen anderen Blick auf die Welt haben, sagte er. Kurz darauf distanzierte sich das restliche documenta-Forum von seinen Aussagen und verurteilte diese scharf, sodass Sperling schließlich zurücktreten musste.


Die Frage, wie es überhaupt zu der Ausstellung von Taring Padis „People’s Justice“ kommen konnte, beantwortete Sabine Schormann Ende Juni in einem Interview mit der Kasseler Lokalzeitung Hessische Niedersächsische Allgemeine damit, dass es um zwei Figuren gehe, die „weil es ein üppig volles Wimmelbild ist, [...] darin im Tohuwabohu des Eröffnungswochenendes zunächst nicht aufgefallen“ seien. In der Folge bezog sich Schormann ebenfalls auf die Kunstfreiheit, die im Zuge der documenta gewahrt werden müsse, weshalb man die dort ausgestellten Werke von der Geschäftsführung auch nicht prüfen lasse. Da die documenta15 jedoch mehrere Jahre lang geplant wurde, erscheint es schwer vorstellbar, dass die Geschäftsführung die Planung nicht begleitete.


Die weiteren Verantwortlichen der Ausstellung, Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die hessische Kunstministerin Angela Dorn und der Oberbürgermeister Kassels, Christian Geselle, der zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der documenta15 ist, wiesen im Zuge der Debatte jedoch auf die Grenzen der Kunstfreiheit hin. Aber auch ein Verschieben der Verantwortung war erkennbar: „Es ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. [...] In diesem einen Fall sind sie [ruangrupa] ihrer Verantwortung ganz offensichtlich nicht gerecht geworden, äußerte sich Geselle zu den Vorwürfen. Interessant ist hierbei, dass es Geselle selbst war, der im Vorhinein eine Überprüfung der Werke ausgeschlossen hatte.


4.2.3. Antisemitismus wird gegen Rassismus ausgespielt

Seit Beginn der Debatte um die documenta15 sehen sich ihre Kritiker:innen mit Rassismusvorwürfen konfrontiert. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, äußerte sich dahingehend im Juni wie folgt:

„Für seine Bedenken gegenüber der diesjährigen documenta wurde der Zentralrat der Juden von vielen Seiten kritisiert. Sogar Rassismus wurde uns indirekt vorgeworfen. Es spielt jedoch keine Rolle, woher Künstler stammen, die Antisemitismus verbreiten. Kunstfreiheit endet dort, wo Menschenfeindlichkeit beginnt. Auf der documenta wurde diese rote Linie überschritten.“

Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt die Reaktion von ruangrupa und weiteren ausstellenden Künstler:innen auf die Pressemitteilung des Expert:innengremiums dar. Darin hatte das Gremium in Bezug auf die Filmreihe „Tokyo Reels Film Festival“ den Vorwurf der Verbreitung von Israelhass und der Glorifizierung von Terror erhoben. Die Künstler:innen weisen in einem offenen Brief die Vorwürfe des Gremiums kategorisch zurück, bezichtigen das Gremium der Zensur und erheben gegen dieses selbst Rassismusvorwürfe.


Ruangrupa und Mitglieder des Artistic Teams der documenta15 äußerten schon im Juli in einem Brief an das Aufsichtsgremium der documenta Vorwürfe rassistischer Diskriminierung und sprachen sich dagegen aus, in „einen Konsultationsprozess mit Wissenschaftlern aus dem Bereich des zeitgenössischen Antisemitismus“ einzutreten. Dass marginalisierte Personen Diskriminierung erfahren, ist eine Tatsache. Daher ist es auch wahrscheinlich, dass einige der Erfahrungen der beteiligten Künstler:innen und Verantwortlichen der documenta15 von Rassismus geprägt sind. Es ist jedoch wichtig, die Kritik an Antisemitismus ernst zu nehmen und nicht durch Rassismusvorwürfe zu relativieren. Dies passiert jedoch, wenn die Forderung, antisemitische Kunstwerke zu entfernen oder auch nur zu kommentieren, als rassistische Zensur verstanden wird.

Der Empfehlung des Expert:innengremiums, die Vorführung der Filmreihe „Tokyo Reels Film Festival zu stoppen und nur in kommentierter Form wieder zuzulassen, wird in dem offenen Brief als „bösartiger Versuch der Zensur“ bezeichnet, der eine rassistische Tendenz („drift“) in einer „schädlichen Struktur der Zensur“ markiere. Es herrsche eine feindliche Umgebung, in der

„Akteure mit einer koordinierten Agenda entschlossen seien, jeden Hinweis auf eine vorweggenommene Schuld zu finden, jedes kritische Detail in eine vereinfachende antisemitische Lesart zu verdrehen und dieselbe Anschuldigung immer wieder zu wiederholen, bis sie als Tatsache akzeptiert wurde.“

Den Wissenschaftler:innen wird nicht nur ihre Expertise abgesprochen, sondern „bösartige Manipulation“ unterstellt: „Welche Art von akademischer Integrität ignoriert absichtlich Geschichte und Fakten im Dienste rassistischer und hegemonialer Agenden?“

Der Konsultationsprozess wird als Re-Kolonialisierung verstanden, in der „die deutsche Schuld und Geschichte auf den palästinensischen Kampf und andere antikoloniale Kämpfe projiziert und übertragen werden.“


Die Findungskommission unterstützte die Stellungnahme ruangrupas. Antisemitismus werde als Instrument missbraucht, um „Kritik am Staat Israel und seiner derzeitigen Besetzungspolitik palästinensischer Gebiete“ zu delegitimieren, so die Kommission. Sie „verteidigen das Recht der Künstler*innen, politische Formeln und festgefahrene Denkmuster zu untersuchen, bloßzulegen und zu kritisieren.“ Der Aufsichtsrat würde Fehler begehen, wenn er sich der „politische(n) Einflussnahme“ beuge.

Das Expert:innengremium wies die Rassismusvorwürfe zurück. Die Vorsitzende Nicole Deitelhoff bezeichnete die Äußerungen ruangrupas als verstörend: Dass man unserem Gremium vorwirft, unsere Stellungnahme sei rassistisch oder deutsch-zentriert, ist lächerlich.“ Deitelhoff zufolge hätte nicht mal die Hälfte des Gremiums die deutsche Staatsangehörigkeit.


Der Zentralrat der Juden verwies in diesem Zusammenhang auf ein altbekanntes Phänomen – der Vorwurf des Antisemitismus scheint schwerer zu wiegen als Antisemitismus selbst:

„Die Experten haben sehr klar auf die Probleme hingewiesen. Die Ausstrahlung der Propagandafilme Tokyo Reels muss sofort beendet werden. Mit ihrer Tirade zeigen die Kuratoren und Künstler, dass sie wissenschaftliche Befunde nur respektieren, wenn sie in ihr Weltbild passen. Was Jüdinnen und Juden oft erleben, wird hier wieder einmal deutlich: Der Vorwurf des Antisemitismus wird als schwerwiegender dargestellt als es der Antisemitismus selbst ist.

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