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documenta15

1.1. Skandal um Werner Haftmann

1. Skandale der Vergangenheit

Die alle fünf Jahre in Kassel stattfindende documenta ist eine der wichtigsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst weltweit. Die erste documenta fand 1955 auf Initiative des überzeugten Sozialdemokraten Arnold Bode (23.12.1900–03.10.1977) statt. Bode erhielt 1930 eine Stelle als Dozent beim städtischen Werklehrer-Seminar in Berlin. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Bode aufgrund seiner politischen Einstellungen ein Berufsverbot als Dozent sowie als Künstler erteilt und seine Kunst als „entartet“ eingestuft. Von da an lebte Bode bis zum Ende des Nationalsozialismus als Antifaschist in Deutschland.


Nach Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte Bode mit der documenta ein Ausstellungskonzept, das an jene erinnern sollte, die von den Nationalsozialisten als „entartete Künstler:innen“ diffamiert und verfolgt wurden. Davon angetrieben, stand die Abstrakte Malerei der 1920er und 1930er Jahre im Fokus der ersten documenta im Jahr 1955.


Neben Bode war auch der Kunsthistoriker Werner Haftmann, der als wichtigster Berater Bodes gilt, federführend an der Leitung der ersten drei documenta-Ausstellungen beteiligt. Haftmann war von 1937 bis 1945 Mitglied der NSDAP. Nach dem Krieg versuchte er, dies zu vertuschen und behauptete, ein einfacher Wehrmachtssoldat gewesen zu sein. Im Oktober 2019 berichteten der Historiker Bernhard Fulda und die Kunsthistorikerin Julia Friedrich bei einer Tagung des Deutschen Historischen Museums, dass sie bei Recherchen im Bundesarchiv die NSDAP-Mitgliedskarte von Haftmann entdeckt hatten. Auch wiesen sie auf einen Aufsatz Haftmanns in der NS-Zeitschrift „Kunst der Nation“ hin, in dem dieser 1934 den Expressionismus als Stil „deutscher Art“ bezeichnete. Nach 1945 hatte Haftmann seine deutschnationale Rhetorik geändert und bezeichnete den Expressionismus fortan als „Medium europäischer Verflechtung“. Der Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister sah in Haftmanns gewandeltem Bekenntnis zur Moderne und seiner Motivation zur Wiedergutmachung gegenüber den sogenannten „Entarteten“ ein taktisches Kalkül zur Selbstreinwaschung und Abwehr des Vergangenen.

Der Historiker Carlo Gentile steuerte zu den Erkenntnissen über Werner Haftmann 2021 weitere Enthüllungen bei. So sei Haftmann ab 1933 Mitglied der SA gewesen. Auch wurde bekannt, dass Haftmann im Zweiten Weltkrieg als Wehrmachtssoldat Anführer eines Kommandos gewesen ist, das in Italien Partisan:innen verfolgte und folterte. Zudem soll Haftmann an der Erschießung von Zivilist:innen beteiligt gewesen sein und wurde durch seine Tätigkeiten von den Nationalsozialisten mehrfach ausgezeichnet.


Im Zuge seiner Arbeit für die documenta sorgte Haftmann dafür, den „Mythos um Emil Nolde“ voranzutreiben, der zu den bekanntesten Künstler:innen der klassischen Moderne zählte. Nolde galt als „entartet“, war aber gleichzeitig bekennender Antisemit. Haftmann schrieb mehrere Bücher über Nolde und trug dazu bei, seine Biographie umzudeuten und ihn als „guten Deutschen“ darzustellen, der innerlich gegen die Nazis Widerstand geleistet habe. Emil Nolde stellte auf den ersten drei documenta-Ausstellungen aus. Hingegen wurden weder Werke, die die Verbrechen der NS-Zeit thematisierten, noch Werke von jüdischen Opfern der Shoah in die Ausstellungen aufgenommen. Die Kuratorin und Kunsthistorikerin Julia Voss wies nach, dass fast die Hälfte der Organisatoren der ersten documenta Mitglieder der NSDAP, SA oder SS gewesen sind.


Die von 2018 bis 2022 amtierende Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann, begrüßte zwar die „unabhängige, wissenschaftliche und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte“, auf der Website der Ausstellung fehlt die kritische Einordnung Haftmanns jedoch bis heute. Dort wird er als „graue Eminenz“ betitelt und seine NSDAP-Mitgliedschaft nur kurz erwähnt, nicht aber seine Verwicklung in etwaige Kriegsverbrechen. Auch wurde Haftmann in der 2019 eröffneten Dauerausstellung „about documenta“ in der Neuen Galerie in Kassel ausgelassen. Die Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit sollte laut Schormann das documenta-Institut sowie das documenta-Archiv übernehmen. Auf der offiziellen Website des documenta-Archivs ist bislang jedoch kein kritischer Eintrag über Werner Haftmann zu finden.

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