Heute gedenken wir der Opfer der Reichspogromnacht am 9. November 1938. Die Nacht vom 9. auf den 10. November war vor 83 Jahren der Scheitelpunkt der sogenannten Novemberpogrome. Diese antisemitische Angriffswelle wurde von der Führungsriege des NS-Regimes bewusst angestachelt und von großen Teilen der deutschen Bevölkerung willentlich ausgeführt oder zumindest geduldet. Die antisemitischen Ressentiments in der Bevölkerung entluden sich besonders in diesen Tagen in zerstörerischen und tödlichen Taten gegen jüdische Einrichtungen, Geschäfte und Einzelpersonen. Hunderte Jüdinnen:Juden wurden dabei in ihrer eigenen Nachbarschaft ermordet und weitere unzählige wurden in den Suizid getrieben. Mehr als 1400 Synagogen, sowie mehrere tausend Wohnungen, Geschäfte und jüdische Friedhöfe wurden in dieser Zeit geplündert oder zerstört. Die Reichspogromnacht markiert in den Augen vieler Historiker:innen einen Wendepunkt der nationalsozialistischen “Judenverfolgung”. Schon zuvor gab es Angriffe auf Synagogen und eine breitflächige Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung durch Gesetze, Boykotts und soziale Ächtung. Nach den Ereignissen der Novemberpogrome allerdings begann die nationalsozialistische Führungsriege ihren Plan der systematischen Verfolgung und letztlichen Vernichtung der Jüdinnen:Juden Deutschlands - und später ganz Europas - umzusetzen. Bereits am 10. November 1938 begann die Inhaftierung von ungefähr 30.000 jüdischen Männern, welche in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau verschleppt wurden.
Die Erinnerung und das Gedenken an diesem Datum richtet sich in der Bundesrepublik heutzutage nicht nur auf die Reichspogromnacht vor 83 Jahren. Am 9. November wird sich zudem an die Ausrufung der Republik in Berlin im Jahre 1919, den Hitler-Ludendorff-Putsch in München 1923 und natürlich an den Fall der Berliner Mauer am 09.11.1989 erinnert. Aufgrund der Vielzahl an historischen Ereignissen wird dieser Tag manchmal auch als “Schicksalstag” der deutschen Geschichte bezeichnet. Im kollektiven Erinnern werden am 9. November gemischte Gefühle hervorgerufen und für manche ist auch die Erinnerung an den Mauerfall kein Grund zur Freude oder Nostalgie. Aus einer jüdischen Perspektive wird durch die frohen Erinnerungen an den Mauerfall das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht teilweise überschattet. Zwar wurde der Nationalfeiertag Deutschlands nach der Wiedervereinigung aus Respekt vor den Ereignissen im Jahr 1938 nicht auf den 9. November gelegt, allerdings spielt im offiziellen Erinnern häufig das jüngere und identitätsstiftende Ereignis des Mauerfalls eine größere Rolle.
Die Journalistin und Fotografin Sharon Adler versuchte in ihrem Text “Kontinuitäten der Erinnerungskultur deutsch-jüdischer Zeitgeschichte” von jüdischen Perspektiven, Gefühlen und Meinungen in der Zeit des Mauerfalls zu erzählen. Im Oktober und November 1989 - also vor 22 Jahren - wurde das deutsche Streben nach der Wiedervereinigung aus jüdischer Perspektive nicht unbedingt positiv bewertet. So erinnert sich Adler selbst daran, wie sie damals durch die “Deutschlandfahnen schwenkenden Menschenmassen [...] zunehmend gemischte Gefühle entwickelte” (Adler 2020). Sie beklagt zudem, dass jüdische Stimmen weder zu der Zeit der Wiedervereinigung, noch im heutigen Diskurs über die Erinnerung daran, gehört wurden. Die Zeitzeugin und heutige Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, erinnert sich an rassistische Vorfälle kurz nach dem Fall der Berliner Mauer und erzählt davon, wie 1989 aus ihrer Sicht der “Geist des Aufbruchs” in Teilen einen völkischen und nationalen Anstrich erhielt (Adler 2020). Leah C. Czollek, die von Sharon Adler ebenfalls interviewt wurde, zieht rückblickend ein mehr als ernüchterndes Fazit: “Der Antisemitismus, den ich in der BRD erlebte, verstärkte sich durch den Mauerfall und die Vereinigung beider Länder. Nicht weil er plötzlich aus der DDR kam, sondern weil er sich miteinander verband und dadurch verstärkte.” (Adler 2020). Aus ihrer Sicht waren die ‘Wir sind das Volk’-Rufe schon damals ein alarmierendes Zeichen. “Uns ekelte dieses nationalistisch-völkische Treiben an.” (Adler 2020).
Das Gedenken an die deutsche Wiedervereinigung und den symbolhaften Tag des Mauerfalls darf nicht ohne jüdische Perspektiven verbleiben. Auch unbequeme Sichtweisen sind Teil des kollektiven Erinnerns und sollten nicht verdrängt werden. Genauso darf die Erinnerung an einen für viele Menschen freudigen Tag nicht das Gedenken an einen Tag der Verfolgung und Vernichtung verdrängen. In diesem Sinne möchten wir heute der unzähligen Opfer der Reichspogromnacht gedenken. Jener 9. November 1938 markiert rückblickend einen schrecklichen Schlüsselmoment des NS-Antisemitismus und darf in der deutschen Erinnerungskultur nicht in den Hintergrund geraten. Gleichzeitig möchten wir vor dem heutigen Antisemitismus warnen und für ein kritisches und differenziertes Erinnern einstehen, in dem jüdische Perspektiven niemals nur zu einer einfachen Randnotiz werden.
Literatur:
Adler, Sharon (2020): Kontinuitäten der Erinnerungskultur deutsch-jüdischer Zeitgeschichte. In: Lierke, Lydia/Perinelli, Massimo (Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin: Verbrecher Verlag.
Link (die Online-Version hat nur 2 von 6 Interviews aus dem Print-Beitrag): https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Erinnern_stoeren/14_Kontinuitäten_der_Erinnerungskultur_.pdf
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