Am 21.05. 2022 verdeckte am Rande des Kongresses „Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden“ ein Transparent die Inschrift im Foyer der Humboldt Universität zu Berlin. In roten Lettern hatte man „Hands off Russia – Hände weg von Russland“ geschrieben auf das Transparent. [1] Karl Marx, dessen elfte These zu Feuerbach, „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an sie zu verändern“, vom Transparent überdeckt wurde, hätte solchen Irrsinn in Zeiten eines Angriffskrieges als „unter dem Niveau der Geschichte“ betitelt. Auf dem Plakat wurde Russland als die unschuldiges Opfer dargestellt, das angegriffen würde. Das ist natürlich eine seltsame Verdrehung der Ereignisse, tritt die Russische Föderation doch als Aggressor in der Ukraine auf.
Außer im Ankündigungstext zur Veranstaltung hörte man kein Wort über das Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung, die Massaker in Butcha, den Angriff auf die Gedenkstätte von Babyn Jar:
„Es herrscht wieder Krieg in Europa. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig und, wie jeglicher Krieg, nicht gerechtfertigt. Der Einmarsch russischer Truppen und die Bombardements verursachen großes Leid unter der Zivilbevölkerung. Die Folgen auf die internationalen Beziehungen sind dramatisch. Noch nie nach dem II. war der III. Weltkrieg so nah.“ [2]
Vor dem Hintereingang der HU in der Dorotheenstraße fand ein von der russischen Demokratiebewegung Demokratie-JA initiierter Protest statt. Im Neuen Deutschland stellte man am 22.05.2022 selbigen in Zusammenhang mit der neonazistischen Kleinstpartei „Dritter Weg“. Grund dafür war allein das Auftreten und Aussehen eines Teilnehmenden, dessen Rolle beim Protest unklar bleibt. Ähnlich kritische Kommentare zu den Teilnehmer:innen des Kongresses unterließ man allerdings im Verlagsgebäude am Franz-Mehring-Platz. Es habe sich schließlich nicht um eine pro-putinistische Veranstaltung gehandelt, da Putin ja ersichtlich nicht selbst anwesend gewesen sei und auch ansonsten wenig Raum eingenommen habe. Der Veranstaltung sei indes nichts anderes vorzuwerfen, als dass sie lebhafter hätte gestaltet werden können. [3] Entweder war niemand vom ND beim Kongress anwesend oder man blendet dort weite Teile des dort Verlautbarten aus. Damit assistiert man einer Initiative, die im Netz beispielsweise verkündet: „Die NATO ist das Militärbündnis, von dem aus die meisten und massivsten Völkerrechtsverletzungen seit dem Ende des Kalten Krieges ausgegangen sind und ausgehen.“ [4] Das kann nur stimmen, wenn man ausblendet, welche Kriegsverbrechen die Allianz unter Assad mit der Beteiligung Russlands, der libanesischen Hisbollah, iranischen und anderen Milizen seit 2011 in Syrien verübt werden. Kriege scheinen also nur dann kritikwürdig zu sein, wenn sie von der NATO ausgehen.
Im Raum 2048 der HU war derweil ein bunter Blumenstrauß an Render:innen zusammengekommen. Diese waren: Oskar Lafontaine (ehemals Die Linke), Ekkehard Sieker (Autor von „Das RAF-Phantom“), Diether Dehm (Die Linke), Eugen Drewermann (Theologe), Norman Paech (ehem. MdB Die LinekPolitikwissenschaftler), Anu Chenoy, Ulla Klötzer, Ann Wright, Yuri Sheliazenko,, Andrej Hunko (MdB, Die Linke), Daniela Dahn, Peter Brandt (Historiker, Autor national-identitären Magazin ‘Wir selbst’), Sevim Dağdelen (MdB, Die Linke) und Reiner Braun (International Peace Bureau).
Der III. Weltkrieg soll, wenn es nach dem Willen der Veranstalter:innen geht, durch Verhandlungen verhindert werden: „Es gibt nur einen Weg zum Frieden: Sofortiger Waffenstillstand, verhandeln statt schießen! Kompromisse ohne Gesichtsverlust für jede der beiden Seiten!“ Im Vorfeld des Kongresses hatte das JFDA mit mit der Journalistin Anastasia Tikhomirova gesprochen, die ein zentrales Problem großer Teile der deutschen Friedensbewegung in der Bewertung des momentanen Krieges gegen die Ukraine darin sieht, dass sie Kriege nie konkret bewerte, sondern sie stets unter eine allgemeine und simplifizierende Erzählung über die Schrecken des Krieges subsumiere, die in den Augen der Friedensbewegung meistens von der NATO provoziert würden. Der konkrete Fall der Ukraine, deren Bevölkerung existentiellen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt ist, tritt hinter diese Logik zurück. Tikhomirova wies zudem mit Moishe Postone darauf hin, dass eine Kritik der NATO in Deutschland stets einhergehen müsse mit einer Kritik deutscher Geschichte und deutscher Sicherheitsinteressen heutzutage, war es doch schließlich der Rechtsvorgänger der BRD, den man mit Waffengewalt zum Grundgesetz zwingen musste. Eine Kritik des Krieges und das Einfordern von Frieden würde also eine Analyse der momentanen politischen Verhältnisse voraussetzen. Substantielles zum Krieg in der Ukraine, zur NATO, deren Kritik und wie etwa ein realistischer Frieden in der Ukraine zu erreichen wäre, hatten die Redner:innen allerdings nicht mitzuteilen. Das war allerdings zu vermuten, da schon der Ankündigungstext den Hauptsitz der NATO von Brüssel nach Washington verlegt, also die NATO zur Chiffre für die USA bestimmt. Dort hieß es nämlich, dass Bundeswehrpiloten den atomaren Erstschlag dort verüben sollten, wo es ihnen Washington befehle.
Vom Gegenprotest, den Diether Dehm als „Figuren in der Dorotheenstraße“ und als „CIA-Knechte” beschimpfte, ließ man sich die gute Laune allerdings nicht vermiesen. Die Stimmung war davon bestimmt, dass sich alle in einer gesellschaftlichen Außenseiterrolle wähnten und dass man mit Gleichgesinnten über die vermeintlich wahren Hintergründe des Krieges in der Ukraine und überhaupt Krieg aufklären müsse. Oskar Lafontaine, der den Kongress mit einem 45 minütigen Vortrag eröffnete, sprach etwa davon, dass man nicht müde werden dürfe dem Zeitgeist zu widersprechen. So sei es etwa unmöglich eine europäische Sicherheitspolitik ohne Russland zu denken. Vor dem Hintergrund, dass seit dem Bestehen der Bundesrepublik immer auch eine „double-bind“-Politik [5], das heißt der Versuch die Westbindung der BRD im eigenen Interesse zu umgehen, betrieben wurde und dass die letzte und die aktuelle Bundesregierung nicht gerade eine konfrontative Russlandpolitik betrieben hat, erscheint die Behauptung merkwürdig konstruiert. Wegen der Aussicht auf billige Rohstofflieferungen hatte man sich der Illusion hingegeben (auch nach dem Krieg gegen Georgien und der Besetzung der Krim) man könne in Putin einen irgendwie gearteten rationalen Vertragspartner sehen. Nach dem Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine konnten sich viele das Handeln Putins bloß aus seiner „Verrücktheit“ erklären. [6] Außerordentlich spät hat sich die deutsche Bundesregierung immerhin entgegen der bisherigen Politik mit Russland zu Sanktionen gegenüber Russland und Waffenlieferungen in die Ukraine durchringen können. Lafontaine behauptete hingegen, dass die deutsche Bundesregierung quasi eine Agenda der Eskalation der Lage in der Ukraine qua Waffenlieferungen forciere. Diese Behauptung und, dass alleine die Friedensbewegung ein Zugehen auf Russland fordere, sind – wie skizziert – reines Wunschdenken. Vorgebracht vom Finanzminister des ersten Kabinetts unter Gerhard Schröder, der mittlerweile in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender des russischen Staatskonzerns Rosneft als zentraler Lobbyist für Verbindungen mit Russland eintritt und sich schon lange gut mit Putin versteht, ist das mindestens schal.
Diese Ansicht, dass nur mit Russland eine friedliche Zukunft für die Welt erreicht werden könne, zog sich durch den gesamten Kongress. Eugen Drewermann begründete dies etwa damit, dass von Russland im gesamten zwanzigsten Jahrhundert kein Krieg ausgegangen sei. Neben dem Breittreten dieser These fanden sich jedoch auch noch steilere Ansichten unter den Redner:innen. Dieter Dehm und Ekkehard Sieker traten in einem Panel zu „Medien und Kultur im Zeichen des Krieges“ auf. Sieker stellte in seinem Vortrag ganz in der Manier früherer Veröffentlichungen dar, dass die meisten Medien von „philanthropischen“ Stiftungen aus den USA kontrolliert seien und Journalist:innen längst als „Krieger“ gegen Akteure einer wahrhaftigen Aufklärung dieser Umstände dieser Machenschaften zu Felde zögen. Später im Vortrag machte er deutlich, wen er denn mit Philanthropen meinte: unter anderen den US-amerikanischen Investor George Soros, dessen Name oft in antisemitischen Verschwörungserzählungen auftaucht. Dieser hinter allem vermutete Komplex hätte es außerdem möglich gemacht, dass etwa in der Ukraine seit 2014 „Putschisten“ an der Macht seien. Dasselbe gelte für andere bunte Revolutionen in Osteuropa. Das sei der Beweis dafür, dass diese Gruppen eine „asoziale“ und „faschistische“ Unterwanderung anderer Gesellschaften planten und dazu mit dem Mittel der Medien eine Gehirnwäsche der Bevölkerung vollziehen würden. Dasselbe könne man momentan an der heraufbeschworenen medialen Mobilmachung gegen Russland sehen. Dieter Dehm pflichtete dem dann nur noch bei in dem er die Medien als „Inquisition“ bezeichnete, die als „Prostituierte des Systems“ vermeintlich kritische Geister wie Lisa Fitz u. a. mit dem Bannfluch des Antisemitismus belegten, bzw. seit Februar 2022 alle pazifistischen Stimmen mundtot machten. Beide beschwerten sich stark über den gegenüber ihnen vorgebrachten Vorwurf Verschwörungstheorien das Wort zu reden, bemühten sich aber mit keiner Silbe auf die Vorwürfe einzugehen, sondern sahen alleinig eine „Inquisition“ der US-Geheimdienste u. a. am Werk.
Der Theologe Eugen Drewermann stellte in seinem anschließenden Vortrag Russland und Deutschland stets als Opfer der Geschichte dar. So wollten heute beispielsweise die „Anführer“, dass die Deutschen nach dem II. Weltkrieg „schon wieder“ zu den Waffen griffen. Die Geschichte aller Kriege ließe sich laut Drewermann so erzählen, dass die „Mächtigen“ einen Staat als „böse“ bestimmten und aufgrund dessen die Angst der Bevölkerung gegen dieses vermeintliche Böse kanalisierten, was zu Kriegen führe. Das gelte gleichermaßen für den II. Weltkrieg wie den Krieg gegen Gaddafi und die meisten anderen auch. Bei dieser Allgemeinheit sollte es aber nicht bleiben, betonte Drewermann doch, dass etwa von Russland kein einziger Krieg im 20. Jahrhundert ausgegangen sei. Drewermann hat also andere Geschichtsbücher als der Rest der Menschheit zur Verfügung, in denen etwa der Winterkrieg von 1939 gegen Finnland, der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 oder die Tschetschenienkriege der 1990er Jahre nicht auftauchen. Die Ukraine gehört für Drewermann wiederum genetisch zu Russland. Zudem hätten die Ukrainer die Nazis beim Einmarsch in die Sowjetunion willkommen geheißen. Besonders letztere Aussage wurde mit starkem Applaus begrüßt. Nicht, dass das nicht zumindest in Teilen stimmte, aber in der Darstellung Drewermanns bekommt die Bemerkung instrumentellen Charakter und wird zur Legitimation des Krieges gegen die Ukraine, weil sie suggeriert, dass Putins Programm einer „Entnazifizierung“ einen wahren Kern habe. [7]
Hier zeigt sich die Tendenz des Kongresses nicht zu analysieren, unter welchen Bedingungen ein Frieden zwischen der Ukraine und Russland möglich sei, sondern Russland durch Auslassungen in gewisser Weise einen Blankoscheck auszustellen.
Alle Kriegsparteien sollen, so die Veranstalter:innen, im Falle eines Friedensschlusses vor „Gesichtsverlust“ bewahrt werden. Vor dem Hintergrund, dass bisher die wenigsten militärischen Ziele der Russischen Föderation erreicht wurden, ist das eine ziemlich realitätsferne Forderung. Vor allem verhöhnt sie die Opfer der russischen Offensive, die dem Ausbreiten des russischen Revisionismus unter Putin Einhalt gewähren wollten. Damit die Russische Föderation unter Putin „ohne Gesichtsverlust“ die Kampfhandlungen einstellen könnte, müsste also in irgendeiner Weise garantiert werden, dass die zu Beginn des Krieges verkündeten Kriegsziele, „Entnazifizierung“, „Demilitarisierung“, doch noch verwirklicht würden. Die Redner:innen und Veranstalter:innen folgen einer unrealistischen Vorstellung von Politik, in der sich die unterschiedlichen Erscheinungen dieser gegenüberstehen und jeweils einer Kriegspartei zugeordnet werden. In der manichäischen Erzählung, wie sie auf dem Kongress verbreitet wurde, ist das Licht der Diplomatie auf der Seite Russlands, das nicht gehört werde, während das Dunkel des Krieges auf Seiten des Westens zu finden ist.
Das Diktum von Carl von Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, ist mittlerweile weit bekannt. Leider wird es zumeist falsch verstanden: Die Politik hört nicht auf, wenn der Krieg beginnt, sondern in ihm wird das Mittel der Politik transformiert. [8] So schreibt von Clausewitz ebenfalls in Vom Kriege: „Wir sehen also [...], da[ss] wir uns den Krieg unter allen Umständen als kein selbständiges Ding, sondern als ein politisches Instrument zu denken haben [...].“ [9] Und: „Der Krieg ist [...] ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ [10] Nicht, dass deshalb der Krieg eine erfreuliche Angelegenheit würde, aber über sein Wesen sollte man sich deshalb trotzdem keine Illusionen machen. Wenn nun die Veranstalter:innen des Kongresses fordern, dass alle wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren sollen, dann wird genau dieser Aspekt außer Acht gelassen, dass Krieg die Politik nicht aussetzt, sondern eben ein Mittel der Politik darstellt. In Friedenszeiten arrangieren Staaten ihre Interessen auf andere Weise, etwa durch den Abschluss von Verträgen, Abkommen uvm. Das Völkerrecht bietet den rechtlichen Rahmen für diese Vereinigung der Willen der Staaten. Da dem Völkerrecht keine zwingende Instanz – ein „Weltsouverän“ [11] – übergeordnet ist, haben die dort sich miteinander arrangierenden Willen bloß einen richtungsweisenden Charakter „formellen Inhalts“ [12]. Vor allem während schon stattfindender Kampfhandlungen bietet das Völkerrecht keine objektive Grundlage um Geschehnisse zu bewerten. Zwar können mit ihm etwa Straftatbestände geahndet, aber nicht der konkrete Inhalt politischer Entscheidungen restlos bestimmt werden. Dies wäre die Aufgabe politischer Analyse. Die während der Kampfhandlungen in der Ukraine stets fortgesetzten Verhandlungen belegen, dass mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine nicht die Politik ausgesetzt wurde, sondern Russland mit dem Angriff seine Position für die Erreichung seiner Ziele stärken, beziehungsweise sie unmittelbar erreichen wollte. Die Ukraine versucht derweil beispielsweise den Schutz seiner Bürger:innen zu garantieren und seine territoriale Integrität zu erhalten. Dafür erbitten sie etwa die Hilfe der NATO. Alle Verhandlungsparteien versuchen in den Kampfhandlungen die bestmögliche Ausgangslage für die Erreichung ihrer jeweiligen Interessen zu erlangen. Wenn sich jemand fände, die:der etwa die Verantwortlichen für die Massaker in Butcha nach Den Haag bringen würde, ist das eine andere Sache, als sich zu fragen, welche Intentionen die Konfliktparteien haben und welche Chancen es aufgrund derer für einen Frieden gibt. Allerdings ist das von der Friedensbewegung weniger zu erwarten und auf dem Kongress auch nicht geschehen, da sie das Völkerrecht bloß in äußerst selektiver Weise heranzieht und zum Wesen der Agenda Putins nichts zu verkünden hat.
Der Ankündigungstext des Kongresses suggeriert allerdings, dass bloß die NATO eine Agenda im Ukrainekrieg verfolge und Russland nur aus Notwehr handle. Die „Zeitenwende“, die nun in der deutschen Russlandpolitik oder in der Außenpolitik allgemein angestrebt werde, sei schon seit Jahren forciert worden und eine „Entspannungspolitik“ gegenüber Russland solle
„diskreditiert und entsorgt werden. Dabei hat es bereits seit Jahren gegenüber Russland nicht zu viele Angebote und Diplomatie gegeben, sondern viel zu wenige. Die NATO war nicht kompromissbereit und setzt ihre eigenen Sicherheitsinteressen auf Kosten anderer durch; so kann keine Sicherheitsordnung in Europa funktionieren.“
Dies führte Wladimir Putin ebenfalls in seiner Rede an die Nation vom 24.02.2022 aus, bevor russische Militäreinheiten am 24.02.2022 die Grenzen der Ukraine übertraten. In dieser Rede legte Putin die ideologischen Rechtfertigungen dar, die Ukraine anzugreifen:
„Im Ergebnis ist die Allianz [die NATO], ihre militärische Infrastruktur, unmittelbar an die Grenzen Russlands vorgedrungen. Und dies ist einer der zentralen Gründe für die Krise der europäischen Sicherheit, es hat sich absolut negativ auf das gesamte System der internationalen Beziehungen ausgewirkt, es hat zu einem Verlust des wechselseitigen Vertrauens geführt.“ [13]
Wenn auf dem Kongress also in abgewandelter Weise das wiedergegeben wird, was auch Putin zur Ukraine zum Besten gegeben hat, dann deutet das auf eine mindestens realitätsferne Bewertung dessen, was als „Putinismus“ oder „russischen Revisionismus“ bezeichnen könnte, hin. Die Staaten, die das betrifft, also die baltischen oder die Ukraine, tauchen samt ihrer Bevölkerung hier nicht auf, bloß Russland mit seinen Verbündeten und auf der anderen Seite die NATO.
Was aber macht die Agenda der Russischen Föderation, die durch Putin verkörpert wird, aus? Der Politikwissenschaftler Andreas Umland charakterisiert diese so, dass die politische Elite Russlands an einer „weitgehenden Wiederauferstehung der Macht und des Territoriums des Zaren- bzw. Sowjetreiches“ [14], interessiert seien. Die zugrundeliegende „rechte und offen kulturalistische Ideologie vom angeblich gemeinsamen eurasischen Ursprung und Wertesystem bzw. von einer authentischen eurasischen Zivilisation mit ihren verschiedenen nationalen Variationen“ [15] ist die Klammer, die die verschiedenen politischen und ökonomischen Interessen des momentanen Russlands zusammenhält. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde diese von zahlreichen russischen Intellektuellen und Politiker:innen entwickelt, um aus der Asche des Sowjetreiches ein neues Russland zu erschaffen. Die Quellen dieses Denkens entstammen zum Großteil der russischen Konterrevolution aus den 20er Jahren, sowie dem Denken der sogenannten Konservativen Revolution aus der Weimarer Republik. Putin empfahl beispielsweise 2013 den Mitgliedern seiner Entourage die Lektüre des russischen Faschisten Iwan Iljins. [16] Dies und etwa die Rolle anderer aus dem russischen Nationalismus und Chauvinismus stammenden Autoren, wie beispielsweise die Alexander Dugins [17], verdeutlichen, dass das ganze System des „Putinismus“ auf eine Abwehr als westlich verschrieener Werte zugeschnitten ist, der auch außenpolitisch Ausdruck verliehen werden soll. Demokratie etwa wird von der russisch-orthodoxen Kirche, die unter Putin eine zentrale Rolle einnimmt, als Abkehr von christlichen Werten verstanden. [18] Russland erscheint so als Bewahrer einer Welt, die eine ursprüngliche Einheit aus Glauben, Kultur und Volk zur zentralen Grundlage erhebt. Bestrebungen zur Demokratisierung innerhalb der ehemaligen Staaten der Sowjetunion müssen in dieser Perspektive als Angriff auf diese Einheit verstanden werden.
Wenn Putin also in seiner Rede vom 21.02.2022 behauptet, die Ukraine habe „im Grunde nie eine gefestigte Tradition einer eigenen Staatlichkeit“ gehabt, dann drücken sich die genannten Ideologien darin aus:
„Die Sowjetukraine ist, wie gesagt, ein Ergebnis der bolschewistischen Politik und man kann sie heute mit Fug und Recht als Vladimir-Lenin-Ukraine bezeichnen. Er ist ihr Erfinder und ihr Architekt. Das wird voll und ganz und ohne Einschränkung durch Archivdokumente bestätigt, einschließlich der harten Leninschen Direktiven zum Donbass, der buchstäblich in die Ukraine hinein gequetscht wurde.“
Die Ukraine ist in Putins Augen also eine Erfindung der Bolschewiki, die diese quasi auf dem Reißbrett erschaffen hätten. Mit der Konstitution der Sowjetunion durch verschiedene Teilrepubliken, die aber laut Putin stets in einem „streng zentralistischen Staat“ integriert geblieben seien, ist für Putin ihr eigener Untergang besiegelt worden: „Diese Bombe, ich wiederhole es, war das Recht auf Austritt aus der Sowjetunion.“ Im Schluss heißt das, dass das die Ukraine für Putin nur durch die Sowjetunion überhaupt existiert. Ihre Souveränität bezieht sie für ihn auch nur dadurch, dass die Sowjetunion ihr erlaubt habe, aus ihr auszutreten. Allerdings werde diese seitdem von Nationalist:innen und Faschist:innen beherrscht, die beispielsweise Minderheiten unterdrückten. [19] Man macht sich unglaubwürdig, wenn man diese Erzählung gänzlich affirmiert und gleichzeitig genau vom rechts-kulturalistischen Kern der Politik Putins und ebenso vom Alltagsrassismus in Russland abstrahiert.
Die russische Außenpolitik [20] lässt sich allerdings nicht bloß aus ihren sicherheits- und geopolitischen Interessen erklären. Vielmehr ist es so, dass Putin sich als „Meister der Rackets“ [21] an die Spitze von innerhalb des russischen Staates rivalisierenden Gruppen gestellt hat und in dieser Funktion durch die ideologische und praktische Forcierung des russischen Revisionismus eine innenpolitische Krise ausagiert, das heißt nur so die Einheit des russischen Staates noch herstellen kann. [22]
So gesehen, ist der Einmarsch des putinistischen Russlands in die Ukraine eben ein Versuch die noch so eingeschränkte demokratische Transformation der Ukraine, das heißt an den Grenzen der Russischen Föderation, rückgängig zu machen und so einerseits die stets labile Macht von Wladimir Putin zu sichern, indem die verschiedensten Interessen innerhalb des russischen Staates austariert werden. Die Klammer bildet genau der putinistische Nationalismus.
Wer am 09.05., dem „Tag des Sieges“, am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin war, hat einen Eindruck davon bekommen, wer sich alles innerhalb dieser Klammer zusammenfassen lässt und die Opfer in der Ukraine verhöhnt: Zu sehen waren Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, Anhänger:innen der Reichsbürgerbewegung, traditionalistische Kommunist:innen, Anhänger:innen der Friedensbewegung, russsich-nationalistische Rockergruppen, gewöhnliche Nationalist:innen, Akteur:innen der sog. Corona-Proteste uvm. Innerhalb der Friedensbewegung, wie sie am 21.05. angetreten ist, scheint der Putinismus ebenfalls die Klammer darzustellen innerhalb derer sich Verschwörungsmythen, die auch aus den Protokollen der Weisen von Zion abgeschrieben sein könnten, mit altlinken Kalendarspüchen und der verbrämten völkerrechtlich aufgehübschten Verachtung des Lebens ukrainischer Menschen vermittelt; das alles ist mal mehr, mal weniger geschichtsrevisionistisch garniert. Mögen nun die Friedensbewegten entgegnen, dass das alles ganz falsch dargestellt sei und man ihnen Böses unterstelle. Im Falles dessen sei ihnen erwidert, dass die Tatsache, dass am Ende eines langen Kongresstages die Behauptung aufgestellt wurde, mit dem Krieg in der Ukraine, sei es wie damals in Deutschland – und dass müsse man ja hierzulande endlich einmal begreifen – , dass der US-Imperialismus zwei Brudervölker gegeneinander aufhetze. Auf dem Podium saßen zu diesem Zeitpunkt unter anderen Sevim Dağdelen und Peter Brandt. Niemand von ihnen widersprach dieser Aussage, wie auch schon vorher nicht, als Drewermann ähnliches von sich gab. Im Anschmiegen an das russische Herrschaftsprojekt fanden sich in der HU also Antidemokrat:innen aller Couleur wieder, die in einer Welt, in der die Hegemonien zwischen den Großmächten neu verteilt werden, ihre Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Selbstverständlich sind sie bloß der pazifistische Arme des Putinismus, doch ist ihre Art und Weise über Krieg und den Ukrainekrieg im Konkreten zu sprechen die Legitimation eines Angriffskrieges. Im Willen sich an eine große Macht anzuschmiegen, sind sie sich einig, dass die Auflösung der NATO, wie Reiner Braun mit großem Beifall ausführte, und ein neues Bündnis unter russischer (und vielleicht chinesischer) Vorherrschaft, zu mehr Demokratie führen würde. Das ist natürlich eine Projektion. Das Gegenteil ist der Fall. Die zugrundeliegende autoritäre Bedürfnisstruktur zu ergründen wäre Aufgabe der Psychoanalyse, die Akteure der Friedensbewegung zu entlarven die aller, die dem Individuum mehr wünschen als das Opfer an der Nation.
Anmerkungen:
[1] https://schmid.welt.de/files/2022/05/IMG_7468-scaled.jpg, letzter Aufruf 30.05.2022.
[2] Alle Zitate aus dem Ankündigungstext lassen sich hier überprüfen: https://frieden-links.de/wp-content/uploads/2022/04/2022-05-21_Kongress-Flyer-4seitig.pdf, letzter Aufruf 30.05.2022.
[3] Vgl. Schack, Ramon. 2022: „Die Mär von der Putin-Lobby“. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163998.friedensbewegung-die-maer-von-der-putin-lobby.html, letzter Aufruf 30.05.2022. Eine ähnliche Schlagseite hat der Artikel des Freitag: Vgl. Körting, Katharina. 2022: „Anti-NATO-Kongress in Berlin: Von Tauben und Falken“. https://www.freitag.de/autoren/katharina-koerting/anti-nato-kongress-in-berlin-provoziert-protest-von-ukraine-unterstuetzern, letzter Aufruf 30.05.2022.
[4] https://frieden-links.de/aufruf/, letzter Aufruf 30.05.2022.
[5] Vgl. Grigat, Stephan. 2003: „Double-bind: Deutsch-amerikanische Beziehungen seit 1945“. In: Thomas Uwer, Thomas von der Osten-Sacken, Andrea Woeldike (Hg.): Amerika: Der „War on Terror“ und der Aufstand der Alten Welt. Freiburg: ça ira.
[6] Vgl. Gess, Heinz. 2022: „Biedermanns sozialer Frieden: Zur deutschen Politik in Zeiten des Krieges“. In: Kritiknetz - Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft. https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Gess_Sozialer_Frieden.pdf, letzter Aufruf 23.05.2022, S. 3
[7] In der jungen Welt feierte man diesen mit der Bergpredigt garnierten Geschichtrevisionismus als „besonders beeindruckend“ ab. Vgl. Schuster, Chiara. 2022: „Absage ohne Konfrontation“. https://www.jungewelt.de/artikel/427100.ohne-nato-leben-absage-an-konfrontation.html, letzter Aufruf 30.05.2022.
[8] Vgl. Wille, Tobias. 2021: „Politik und ihre Grenzen in Clausewitz’ Denken über den Krieg“. In: Politische Vierteljahresschrift. Heft 62,1.
[9] von Clausewitz, Carl. 1980: Vom Kriege. Bonn: Ferdinand Dümmler, S. 212.
[10] Ebd., S. 191 f.
[11] Vgl. Scheit, Gerhard. 2009: Der Wahn vom Weltsouverän: Zur Kritik des Völkerrechts. Freiburg: ça ira.
[12] Diner, Dan. 1993: „Zur Konstruktion des Völkerrechts“. In: Ders.: Weltordnungen: Über die Geschichte und Wirkung von Recht und Macht. Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 67.
[13] Zitate Putins sind der „Rede an die Nation vom 21.02.2022“ entnommen. Diese ist hier zu finden: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/, letzter Aufruf 17.05.2022.
[14] Umland, Andreas. 2014: „Das eurasische Reich Dugins und Putins: Ähnlichkeiten und Unterschiede“. Übers. v. Giselher Stoll. In: Kritiknetz - Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft. https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Umland_Dugin_Putin.pdf, letzter Aufruf 20.05.2022, S. 2
[15] Ebd.
[16] Vgl. Laqueur, Walter. 2015: Putinismus: Wohin treibt Russland? Übers. v. Klaus-Dieter Schmidt. Berlin: Propyläen, S. 166, sowie S. 91-144.
[17] Vgl. ebd., S. 102 ff.
[18] Vgl. ebd., S. 99.
[19] Vgl. Tkachenko, Kyrylo. 2022: „Genug von der germanischen Linken”. In: Jungle World 20 (2022).
[20] Vgl. Laqueur. 2015: Putinismus, S. 225 ff.
[21] Vgl. Fuchshuber, Thorsten. 2015: „Meister der Rackets: Die Russische Föderation unter Wladimir Putin“. In: Sans Phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik. Heft 7.
[22] Vgl. Fuchshuber, Thorsten. 2022: „Der blinde Fleck der Geopolitik“. In: Jungle World 17 (2022).
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