Auf den ersten Blick wirkt die Szene fast unscheinbar und allzu bekannt: Vor der Bühne der von der AfD-Politikerin Leyla Bilge organisierten Demonstration, die am Samstag, den 13.02.2021, durch Berlin-Mitte zog und dabei auch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas passierte, steht ein Mann mit roter Jacke und blauer Mütze. Mit seinen Händen bildet er eine Raute. Es ist jene Raute, die durch Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannt gemacht wurde - und genau darum geht es dem Demonstranten: Als die Moderatorin ihm das Mikro von der Bühne herunter reicht, begrüßt der Mann die Teilnehmer:innen mit “liebe Genossen und Genossinnen” und redet von “Linksstaatlichkeit”. Auf der Rückseite seiner Jacke prangt großformatig das Staatswappen der DDR.
Ganz offensichtlich geht es dem Mann darum, die Bundeskanzlerin ins Lächerliche zu ziehen und ihre Person und aktuelle Politik mit dem ehemaligen SED-Regime in Verbindung zu bringen und dadurch zu delegitimieren. Bis hierhin eine peinlich-infantile Protestinszenierung, wie man sie bereits auf zahlreichen Anti-Merkel-Protesten und Veranstaltungen gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen der vergangenen Monate beobachten konnte.
Doch da gibt es noch ein kleines Detail, das dem Auftritt des Mannes einen entscheidenden Charakter verleiht: Es ist eine Israel-Flagge, die der Mann auf der Vorderseite seiner knallblauen Mütze befestigt hat. Die Botschaft dahinter: Der jüdische Staat Israel kontrolliert die deutsche Bundeskanzlerin, bestimmt ihre Politik, steuert gar ihre Gedanken.
Die Aufführung dreht sich also nicht nur um das populistische Ressentiment gegen “die da oben”, sondern transportiert klassischen, glasklaren Antisemitismus: den Glauben an die jüdische Macht, die hinter Politik, Wirtschaft, Medien stehe, die die Fäden der Weltpolitik in den Händen halte, die aus egoistischen Motiven skrupellos Kontrolle ausübe. Der Demonstrationsteilnehmer verpackt diese uralten antisemitischen Verschwörungsphantansien jedoch in eine Variante des “Antisemitismus nach Auschwitz” (Thomas Haury). Anstatt “jüdische Kreise” anzuprangern, die die deutsche Regierungspolitik kontrollierten, ist das Objekt seiner antisemitischen Phantasie der Staat Israel als jüdisches Kollektiv.
Der israelbezogene bzw. antizionistische Antisemitismus ist heute laut der Kognitionswissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel die vorherrschende Form von Judenfeindschaft. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass es sich auch dabei um den im Kern gleich gebliebenen Antisemitismus handelt, der in Europa seit Jahrhunderten verbreitet ist. Antisemitismus wird manchmal als Chamäleon bezeichnet: Zwar ändert er seine äußere Erscheinungsform von Zeit zu Zeit, sein Kern jedoch bleibt stets derselbe, nämlich Hass, Ressentiment und Verachtung gegenüber Jüdinnen und Juden. Der Begriff “die Juden” wird schlicht gegen “Israel” bzw. “die Zionisten” ausgetauscht.
Die Mythen über die vermeintliche Bösartigkeit Israels, den angeblichen Einfluss des kleinen Staates, der nicht viel größer ist als das Bundesland Hessen, die Anklage gegen den jüdischen Staat, der sich seit seiner Gründung gegen Vernichtungsversuche verteidigen muss, als Gefahr für den Weltfrieden oder als Feind der Menschheit, die Rede von der “Israel-Lobby”, Karikaturen, die Israel als gefräßiges Monster oder den israelischen Ministerpräsidenten als mörderischen Blutsauger darstellen - all das sind Phantasmen und Vorstellungen, die aus der Geschichte des europäischen Antisemitismus hinlänglich bekannt sind und die sich seit 1948 gegen den einzigen jüdischen Staat weltweit richten.
Zu dieser Form von klassischem Antisemitismus im neuen Gewand gehört auch die Aufführung des Hobbykabarettisten auf der Demonstration am 13.02.2021. Ohne Widerspruch oder Einschreiten der Organisator:innen konnte der Mann seinen antisemitischen Phantasien Ausdruck verleihen und sie auf Berlins Straßen unter Beifall ausleben.
Dass die aktuelle verschwörungsideologische Protestbewegung gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen der Bundes- und Landesregierungen deutliche antisemitische Tendenzen aufweist, darauf wurde in den vergangenen Monaten nicht nur von unserer Seite immer wieder hingewiesen. Das Grundgerüst des Verschwörungsglaubens selbst ist identisch mit dem Antisemitismus. Auch die Opferinszenierungen und infamen Gleichsetzungen mit vom NS-Regime zwischen 1933 und 1945 verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden durch Anhänger:innen der “Querdenker”-Bewegung sind ohne Zweifel antisemitisch, denn die Demonstrant:innen, die von Woche zu Woche ihre demokratischen Rechte frei ausleben und in ganz Deutschland Kundgebungen veranstalten, banalisieren das Grauen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und das unermessliche Leid der von Deutschen ermordeten und verfolgten Jüdinnen und Juden. Es ist der Wunsch von Angehörigen der Täter-Gesellschaft, die deutsche Nation und Identität von Schuld und Verantwortung zu befreien und selbst in die Rolle der Verfolgten und Ermordeten zu schlüpfen.
Sollten jedoch noch Zweifel bestanden haben, dass dieses Protest-Spektrum auch die Spielart des israelbezogenen Antisemitismus beherrscht oder dass die AfD durch ihre in einzelnen Aspekten eventuell proisraelische Politik kein massives Problem mit Antisemitismus hat, so haben der Demonstrationsteilnehmer mit roter Jacke und blauer Mütze sowie sein begeistertes Publikum diese am 13.02.2021 vollends ausgeräumt.
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