Heute gedenken wir der jüdisch-polnischen Partisanin Rozka Korczak. Denn nicht nur
jüdischer Widerstand findet in der öffentlichen Erinnerung im Diskurs über Widerstand gegen den Nationalsozialismus wenig Beachtung, auch der Widerstand von Frauen ist oftmals kaum bekannt. Folgender Beitrag behandelt das Leben und den Kampf Rozka Korczaks, die als Mitglied der Widerstandsgruppe Fareynegten Partizaner Organizatsye (FPO) im Ghetto Vilnius Juden:Jüdinnen zur Flucht verhalf, Waffen in das Ghetto schmuggelte und auch nach ihrer Befreiung die Flucht mehrerer tausend Überlebenden der Shoah nach Palästina organisierte.
Rozka Korczak wurde am 24. April 1921 in Bieslko, Polen, als älteste von drei Töchtern in eine traditionsbewusste jüdische Familie geboren. Ihr Vater Gedaliah war Viehhändler und überzeugter Zionist. Da es in der Stadt nur wenige jüdische Familien und auch keine jüdische Schule gab, besuchte Korczak eine polnische Schule, in der sie schon früh mit Antisemitismus konfrontiert wurde. Als sie in die achte Klasse ging, organisierte sie einen Streik der jüdischen Schüler:innen gegen den Schulleiter, der immer wieder antisemitische Äußerungen tätigte. Neben dem Schulunterricht beschäftigte sie sich viel mit dem Judentum, indem sie regelmäßig die Tora und den Talmud studierte.
Im Jahr 1934 zog die Familie aufgrund ihrer finanziellen Not nach Plock, eine Stadt, die etwa 94 km nördlich von Łódź gelegen ist. Aufgrund der finanziellen Situation entschloss sich die damals vierzehnjährige Rozka dazu, nicht mehr in die Schule, sondern stattdessen für ihre Familie arbeiten zu gehen. Da sie schon immer einen hohen Wissensdrang und Lernfreude hatte, besuchte sie nebenbei Abendkurse und las zahlreiche Bücher. Das Buch Autoemanzipation (1882) von Leon Pinsker (1821-1891) inspirierte sie dazu, sich der links-zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair anzuschließen. Schnell wurde Korczak Mitglied ihrer Leitung und übernahm eine prägende Rolle in der Vereinigten Partisanenorganisation.
Als die deutschen Truppen im September 1939 in Polen einmarschierten, wurde Korczak Zeugin der Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung und fasste den Entschluss, die Stadt Plock und somit auch ihre Familie zu verlassen. Zunächst ging sie nach Warschau, um sich von dort aus zu Fuß zu einem vereinbarten Treffpunkt von Hashomer Hatzair Mitgliedern in Vilnius durchzuschlagen. Korczak arbeitete zusammen mit anderen Mitgliedern der Gruppe in einer Bürstenindustrie und lernte dort unter anderem Vitka Kempner und Abba Kovner, den dortigen Anführer der Gruppe, kennen. Da alle jüdischen Organisationen nach der Angliederung Litauens an die Sowjetunion verboten wurden, musste die Gruppe ab Juli 1940 illegal im Untergrund arbeiten. Nach ihrer Arbeit besuchte sie ein Abendgymnasium, wo sie sich vor allem mit jiddischer und jüdischer Kultur auseinandersetzte. Schließlich erfuhr Korczak von der Deportation ihrer Familie nach Piotrkow Trybunalski und dem Tod ihres Vaters (1940).
Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel und Vilnius besetzte, beschlossen Korczak und andere Mitglieder der Gruppe, Richtung Osten zu fliehen und sich der Roten Armee anzuschließen. Der Plan scheiterte allerdings, da die deutsche Wehrmacht sie einholte. Im Juli wurden fünftausend jüdische Männer nach Ponary, etwa 12 Kilometer von Vilnius entfernt, getrieben und dort in eine große Grube hinein erschossen. Dies war der erste Massenmord in Ponary, auf den noch viele weitere folgten. Bis 1944 wurden dort zwischen 60.000 und 70.000 Juden:Jüdinnen erschossen und in Massengräbern vergraben.
Im September 1941 wurde Korczak zusammen mit den anderen noch etwa 28.000 in der Stadt verbliebenen Juden:Jüdinnen in das Ghetto Vilnius deportiert. Korczak kümmerte sich um die im Ghetto lebenden Waisenkinder und arbeitete in der Ghetto-Bibliothek. Als die Inhaftierten des Ghettos von den Massenmorden in Ponary erfuhren, war sich die Gruppe uneinig darüber, ob sie bei der Gemeinde im Ghetto Vilnius bleiben oder einen Fluchtversuch wagen sollten. Bei einem Treffen der Gruppe am 31. Dezember 1941 verlas der Gruppenanführer Abba Kovner ein Manifest, in dem es unter anderem hieß: “Hitler plant, alle Juden Europas zu töten. ... Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen.” Ein paar Wochen später schlossen sich verschiedene Widerstandsgruppen unter der Führung von Yitzhak Wittenberg zur Fareynegte Partizaner Organizatsye (Vereinigte Partisanenorganisation, FPO) zusammen, an deren Gründung Korczak aktiv mitwirkte. Die Widerstandsgruppe schmuggelte Waffen in das Ghetto und verhalf Juden:Jüdinnen zur Flucht.
Der Vorsitzende des Judenrats, Jacob Gens (1905-1943), wurde von den Deutschen dazu gedrängt, den Anführer der Widerstandsbewegung auszuliefern. Als er dem Druck in der Nacht des 15. Juli 1943 nachgeben und Wittenberg verraten wollte, rettete Korczak ihren Kommandanten gemeinsam mit einigen anderen Mitglieder der Gruppe in einer mutigen und gefährlichen Rettungsaktion. Da die Gestapo damit drohte, die gesamte Bevölkerung des Ghettos zu liquidieren, wenn Wittenberg nicht ausgeliefert werden sollte, stellte dieser sich am nächsten Tag jedoch selbst der Ghettopolizei. Abba Kovner, der daraufhin zum neuen Anführer der FPO bestimmt wurde, sagte später im Eichmann-Prozess in Jerusalem über die Verhaftung und den Tod Wittenbergs aus. Unter der Führung von Abba Kovner beschloss die FPO, sich von nun an auf den Partisanenkampf in den Wäldern zu konzentrieren.
Als das Ghetto Vilnius am 23. September 1943 liquidiert wurde, flüchtete Korczak gemeinsam mit etwa 90 anderen FPO-Mitgliedern, die als letzte Kämpfer:innen der Gruppe im Ghetto verblieben waren, durch die Kanalisation nach draußen. Bei der Flucht trug sie alle Dokumente der Gruppe auf ihrem Rücken. Am verabredeten Treffpunkt brachten Sonia Madeysker und Vitka Kempner die Geflüchteten zunächst in kleinen Gruppen in vorbereiteten Verstecken unter, bis sie ihre Flucht weiter in Richtung der Wälder von Rudniki fortsetzten. In den Wäldern von Rudniki, in denen eine autonome jüdische Partisanenbrigade unter dem Kommando von Abba Kovner organisiert worden war, hielt sich die Widerstandsgruppe die folgenden zehn Monate auf. Korczak hatte die Aufgabe, Lebensmittel für die Gruppe zu beschaffen und zu verteilen und trug somit eine hohe Verantwortung für den Widerstand. Zudem kümmerte sie sich um die Kleidung und Ausrüstung der Gruppe.
Gemeinsam mit anderen Frauen der Gruppe kämpfte sie hart darum, ebenso wie die Männer kämpfen gehen zu können. Später sagte Korczak über ihre Zeit in der Partisanenbrigade: “Ich erinnere mich, dass ich bei der ersten Operation zusammen mit einer unserer Kameradinnen ausgewählt wurde; wir spürten, dass das gesamte Schicksal des weiblichen Geschlechts von uns abhing. Wenn wir die uns anvertraute Aufgabe erfüllten, würden wir den Weg für die anderen Mädchen ebnen.” Bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 13. Juli 1944 kämpfte Korczak in der Partisaneneinheit “The Avengers”.
Nach der Befreiung kehrte sie gemeinsam mit Abba Kovner, Vitka Kempner und mehreren anderen hundert Überlebenden nach Vilnius zurück, wo sie das Ghetto vollkommen zerstört vorfanden. In dieser Situation gründete Abba Kovner die Fluchtorganisation “Bricha”, mit der Korczak tausenden Shoa-Überlebenden zur illegalen Flucht nach Palästina verhalf. Um nach weiteren Überlebenden, Partisanen und Mitgliedern der Gruppe zu suchen, reiste Korczak unter anderem nach Kaunas und später auch nach Rumänien, um über diese Route Fluchtwege nach Palästina ausfindig zu machen. Von Bukarest aus übersiedelte sie noch im Jahr 1944 schließlich selbst nach Palästina, da die dort ansässigen Mitglieder der zionistischen Jugendorganisation He-Halutz sie dazu ermutigten, ihre Geschichte der jüdischen Öffentlichkeit mitzuteilen. Sie war die einzige Überlebende aus ihrer Familie, ihre Mutter Hinda und ihre beiden jüngeren Schwestern Teibel (geb. 1924) und Rachel (geb. 1927) wurden im Jahr 1942 ermordet. Der Kibbuz Eilon wurde ihr erstes Zuhause in Palästina. Schon 1945 begann sie ihr Buch “Flammen in der Asche” (Erstveröffentlichung 1947) zu schreiben, in welchem sie ihre persönlichen Erinnerungen und die Geschichte der Widerstandsgruppen erzählt. Ihr Buch sowie das zweibändige Werk “Das Buch von den jüdischen Partisanen”, an dem sie mitwirkte, zählen zu den ersten Quellen über jüdischen Widerstand in Litauen.
Im Oktober 1947 wurde Korczak gemeinsam mit Vitka Kempner, Abba Kovner und Chesia Rosenberg in den Kibbuz Ein Ha-Horesh aufgenommen. Korczak war ein sehr aktives und engagiertes Mitglied der Kibbuzgemeinde, in dem sie als Erzieherin arbeitete und damit beauftragt wurde, ehemaligen Partisan:innen, die nach Palästina kamen, bei ihrer Eingewöhnung dort zu helfen. Sie heiratete ihren Mann Avi Marla und wurde Mutter von drei Söhnen: Yehudah (geb. 1952), Yonat (geb. 1954) und Gadi (geb. 1959). Zwei Amtszeiten lang war Korczak-Marla Kibbuzsekretärin, das erste Mal von 1958 bis 1961 und das zweite Mal von 1980 bis 1981.
In den sechziger Jahren arbeitete sie aktiv für das vom Kibbuz Ha-Arzi gegründeten Institut Moreshet für Holocaust-Forschung, das Dokumente und Zeugnisse aus der Zeit sammelte und Literatur und Broschüren veröffentlichte. Sie beteiligte sich an jeder Veröffentlichung und allen Veranstaltungen und wurde später zur Leiterin des Instituts. In ihrer Position als Redakteurin zeichnete sie sich laut Zeitzeug:innen durch ihr hohes Einfühlungsvermögen und ihren Sinn für Humor aus. Bis zu ihrem Tod war sie mit viel Hingabe für Moreshet tätig, wo sie las, schrieb und Schriftsteller:innen mit viel Unterstützung beriet. Ihre Mitmenschen beschrieben sie als zierliche und bescheidene Frau mit zarten Gesichtszügen, die immer ein offenes Ohr für andere Menschen und eine hohe Hilfsbereitschaft hatte. Viele Menschen im Kibbuz, aber auch von außerhalb, wandten sich in ihrer Not an sie und erhielten ihre Unterstützung bei unterschiedlichsten Angelegenheiten. Auch ihre Familie nahm einen sehr wichtigen Platz in ihrem Leben ein. Ihre Kinder schrieben nach ihrem Tod: “Mutter lebte ein Leben voller Hingabe”.
Am 5. März 1988 verstarb Rozka Korczak-Marla im Alter von 66 Jahren an Krebs. Der Widerstandskämpfer Abba Kovner, mit dem sie eine tiefe, außergewöhnliche und lebenslange Freundschaft verband, verstarb nur wenige Monate zuvor.
Literatur:
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