Eine neue Querfront
Es sind irritierende Szenen, die sich am 9. Mai am Alexanderplatz in Berlin abgespielt haben. Bis zu 1.200 Menschen demonstrierten gegen die Coronapolitik der Bundesregierung, riefen nach „Freiheit“, dem „Grundgesetz“, forderten die anwesende Polizei auf, sich ihnen anzuschließen, bezeichneten sich als „Volk“, das „Widerstand“ leiste. Sie traten aggressiv auf, es flogen Flaschen, viele trugen typische Kleidung und Symbole der rechtsextremen Szene.
Seit der ersten so genannten Berliner Hygienedemo hat eine zunehmende Radikalisierung und bundesweite Ausbreitung dieser Protestform stattgefunden. In der Bilanz lassen sich ein bedenklicher rechtsextremer Zulauf, körperliche und verbale Angriffe auf Pressevertreter:innen und Polizist:innen sowie eine ungebrochene Verbreitung von kruden Verschwörungstheorien bis hin zu offenem Antisemitismus feststellen. Unstrittig ist, dass sich hier eine neue rechtsoffene Querfront etabliert. Diese beherbergt eine soziopolitisch heterogene Klientel, die den Coronamaßnahmen gegenüber kritisch eingestellt und mehrheitlich für Verschwörungstheorien anfällig ist.
Seit der Coronademonstration am 25. April haben wiederholt derartige Proteste in Berlin stattgefunden: am 1. und 2. Mai angemeldet durch die „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (KDW) um die ursprünglich einem eher linken Spektrum angehörigen Anselm Lenz, Batseba N’diaye und Hendrik Sodenkamp, am 6. Mai durch den veganen Kochbuchautoren Attila Hildmann, am 8. und 9. Mai erneut durch die KDW. Geeint werden alle Coronademonstrant:innen lediglich in ihrer Ablehnung der weltweiten Coronamaßnahmen sowie mehrheitlich in ihrem Glauben an antimoderne, antidemokratische Verschwörungsnarrative.
Kurzüberblick über die einzelnen Demonstrationen
Die Zahlen der Teilnehmenden variierten im Beobachtungszeitraum: Nach polizeilicher Schätzung kamen am 25. April mehr als 1.000 Personen um den Rosa-Luxemburg-Platz zusammen, am 1. Mai waren es rund 500 Personen, am 2. Mai nur noch etwa 300. Am 6. Mai versammelten sich knapp 400 Personen vor dem Reichstag, am 8. Mai waren es kaum 100 Menschen, die gegen die Coronamaßnahmen demonstrierten. Am 9. Mai waren es rund 1.200 Personen, die sich zu Demonstrationen versammelt hatten. Die Situation drohte am Alexanderplatz zu eskalieren. Die bundesweit durchgeführten Coronademonstrationen wurden durch ein neuartiges rechtsextremes Netzwerk von Livestreams geteilt. Es ist ferner zu vermuten, dass die zeitweise sinkende Anzahl der Teilnehmenden der Coronademonstrationen nicht zwingend etwas über die Popularität der Bewegung aussagt. Vielmehr ist von einer großen Dunkelziffer von Sympathisant:innen auszugehen, die sich zunehmend über das Internet informieren, austauschen und radikalisieren.
Hygienedemo am 25. April 2020, Rosa-Luxemburg-Platz und Umgebung
Am 25. April fand in Berlin die fünfte so genannte Hygienedemo statt. Die Zahl der Teilmehmenden hatte sich explosionsartig innerhalb von nur einer Woche auf mehr als 1.000 erhöht. Inhaltlich und personell ähnliche Demonstrationen fanden bereits zu diesem Zeitpunkt bundesweit in mehreren Städten statt, unter anderem in Halle und Stuttgart. Zum ersten Mal formierte sich in Berlin auch ein vornehmlich linker Gegenprotest – aufgerufen hatte das Bündnis „#reclaimrosaluxemburgplatz„, darunter die LAG Antifaschismus DIE LINKE Berlin, die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)“, die „Omas gegen rechts“ sowie einzelne antifaschistische Gruppen.
Skurril wirkte eine Situation, in der mehrere Menschen auf der Straße tanzten – und zwar abwechselnd zu Bob Marleys „Get up, Stand up“, allen drei Strophen des Deutschlandliedes sowie dem Lied „Auf, auf zum Kampf“ in der Version von 1919, die auch als Kampflied der Arbeiterbewegung bekannt ist. Einige der Teilnehmenden wirkten zwar irritiert über die Musikauswahl, zu größeren Kontroversen kam es allerdings nicht. Auf der Hygienedemo anwesend waren unter anderem Lars Günther (AfD), Martin Müller Mertens (Compact Magazin), Ken Jebsen sowie Personen aus dem neonazistischen Spektrum.
Hygienedemo am 1. Mai 2020, Rosa-Luxemburg-Platz und Umgebung
Den Auftakt der Coronademo am 1. Mai bildete die temporäre Festnahme des Mitbegründers der KDW, Anselm Lenz. Dieser kam mit dem Taxi vorgefahren und schleuderte einer Gruppe umstehender Polizist:innen beim Aussteigen in theatralischer Manier einen Stapel der Protest-Zeitung „Demokratischer Widerstand“ entgegen. Die Polizist:innen setzten ihn daraufhin fest und führten ihn über den abgesperrten Rosa-Luxemburg-Platz ab. Während er abgeführt wurde, skandierte er nicht minder theatralisch die folgenden Sätze in Richtung der anwesenden Polizeibeamt:innen: „Sie beteiligen sich an einem Verbrechen. Verweigern Sie die Befehle oder melden Sie sich krank. Sie beteiligen sich an einem Verfassungsbruch. Alle die sich an diesem Verbrechen beteiligt haben, vor allem die Befehligenden, werden vor Gericht gestellt werden.“ Dabei verwies er lautstark auf den Grundgesetz-Artikel 20, Absatz 4, der das Widerstandsrecht deutscher Staatsbürger:innen zum Schutz der Verfassung vorsieht. Der ganze Vorfall wirkte wie eine eigentümliche Inszenierung des ehemaligen Dramaturgen Lenz.
Weitere Festnahmen ereigneten sich am 1. Mai, als ein Kamerateam der ZDF-„heute-show“, das mit dem Kabarettisten Abdelkarim am Rosa-Luxemburg-Platz einen Beitrag drehte, vor einem nahegelegenen Straßencafé von einer Gruppe vermummter Personen angegriffen wurde. Mehrere Mitglieder der Crew wurden verletzt und mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Sechs Tatverdächtige wurden festgenommen. Gegen sie wird ermittelt, die Motive ihres Angriffs sind weiterhin unklar.
Hygienedemo am 2. Mai 2020, Rosa-Luxemburg-Platz und Umgebung
Am 02. Mai kam es zu Tumulten zwischen Polizist:innen und Demonstrierenden auf dem nahegelegenen Schendelplatz, als letztere ihre Versammlungen auch nach mehrfacher polizeilicher Aufforderung nicht auflösten. Bei den Demonstrierenden handelte es sich überwiegend um Personen, die ihren Protest durch Meditation zum Ausdruck brachten, was zu einer charakteristischen Bewegung auf den Hygienedemos geworden ist. Die Polizist:innen wurden mit Pfiffen, Buhrufen, „Freiheit“- und „Wir sind das Volk“-Parolen bedacht, als sie die Demonstrant:innen festnahmen.
Auffällig war an diesem Tag eine angemeldete Gruppe von Meditierenden, die einem Aufruf von Ken Jebsen (KenFM) zu einer „Ignorance Meditation“ auf den Rosa-Luxemburg-Platz gefolgt waren. Jebsen selbst erschien zusammen mit dem Fotografen Kai Stuht aus einem der umstehenden Wohnmobile und setzte sich auf das Dach eines zuvor dort bereitgestellten ausrangierten Feuerwehrwagens. Während Jebsen Helm und Pilotenmaske trug, war Stuht als Pippi Langstrumpf verkleidet. Sein Kostüm habe er nach dem Motto ‚die Politik mache sich die Welt, wie sie ihr gefällt‘ gewählt, erklärte Stuht in dem Video, das er und Jebsen zuvor im Wohnmobil aufgezeichnet hatten (https://kenfm.de/meditation-fuer-das-grundgesetz-teil-2/). Demnach sei die Botschaft der an diesem Tag stattgefundenen Meditation der Protest gegen das neue Gesundheitsgesetz der Bundesregierung, welches das Recht der Polizei auf Betreten privater Wohnungen im Zusammenhang mit Coronamaßnahmen vorsehe, gegen eine vermeintliche zukünftige Impfpflicht und vor allem gegen die so genannte „ID 2020“, die digitale Identität.
Die gemeinsame Meditation vor der Volksbühne dauerte eine Stunde. Auftritt und Abgang von Jebsen und Stuht wurden mit Jubel und Applaus durch ihre Anhänger:innen kommentiert. Die Inszenierung und vor allem der inbrünstige Gestus, mit der die Demonstrant:innen im Halbkreis um den auf dem Feuerwehrwagen thronenden Jebsen meditierten, erinnerten an das Gebaren einer Sekte.
Kundgebung vor dem Reichstag am 6. Mai 2020
Am Mittwoch, den 6. Mai, hatte der vegane Kochbuchautor und Imbissbetreiber Attila Hildmann zu einer Kundgebung vor dem Reichstag aufgerufen. Hildmann war zuvor in sozialen Medien durch eine offen kommunizierte Radikalisierung hin zur verschwörungstheoretischen Hygiene-Querfront aufgefallen. Er hatte dort angekündigt, fortan im „Untergrund“ leben zu wollen, weil man versuche, ihn zu ermorden und kündigte über seinen Telegram-Kanal eine feindliche Übernahme durch „dunkle Mächte“ an, hinter denen „neben Bill Gates und der Rockefeller Foundation auch die Bilderberger“ stünden. Auf dieser Kundgebung wurde ein Kamerateam der ARD von einem Demonstranten angegriffen, die Polizei schritt umgehend ein und verhaftete die Person.
Hygienedemos am 8. und 9. Mai 2020, Reichstag, Rosa-Luxemburg-Platz, Alexanderplatz
Am 8. Mai waren ebenfalls Coronademonstrationen in ganz Berlin angemeldet, die allerdings kaum Zulauf fanden. Anders am 9. Mai: dort zeigte sich eine qualitativ neuartige Dynamik. Es wurden stadtweit wieder mehrere Coronademonstrationen angemeldet, auch am Rosa-Luxemburg-Platz. Dort zeichnete sich bereits ein großes Aggressionspotential ab. Eine Gruppe von Menschen war im Begriff, mehrere von der Polizei errichtete Hamburger Gitter zu stürmen, um auf den Platz zu gelangen. Anselm Lenz, der ebenfalls anwesend war, rief in Richtung der Polizei, dass sie sich der Demonstration anschließen sollen, da sie ansonsten „sowieso vor Gericht“ stehen würden. Von dort setzten sich die anwesenden Demonstrant:innen in Bewegung zum Alexanderplatz, wo die Lage beinahe außer Kontrolle geriet. Dort kamen bis zu 1.200 Personen zusammen, unter ihnen mindestens 150 rechtsextreme Hooligans in szenetypischer Kleidung sowie Angehörige der Partei „Widerstand2020“.
Die Polizei war im Vergleich zum 1. und 2. Mai weniger zahlreich gegen das zivile Aufgebot gerüstet. Die Einsatzkräfte hielten sich zurück, trotzdem kaum jemand die aktuellen Regeln zur Corona-Eindämmung beachtete. In Trauben standen sie zusammen und wurden immer wieder mit den lauten Parolen und Pöbeleien der Protestler:innen konfrontiert. Manch eine:r versuchte sich darin, die anwesenden Einsatzkräfte zum Seitenwechsel zu bewegen, viele andere beschimpften sie als „Volksverräter“.
Eine interessante Szene spielte sich am Rand der Demo ab: Hendrik Sodenkamp, Mitbegründer der KDW, fiel am Alexanderplatz durch Ausrufe auf, dass diese Veranstaltung keinen Platz für Rechte böte und Nazis mit den Grundrechten und der liberalen Verfassung nichts zu tun hätten. Dafür erntete er breites Unverständnis sowie harsche Kritik umstehender Demonstrierender und verärgerte „Stasi raus“-Rufe. Er wurde als „Spalter“ bezeichnet, der sich gegen die hier entstehende „Einheit“ richte.
Am selben Abend wurde Sodenkamp von Martin Lejeune telefonisch interviewt und zu dieser Szene befragt. Sodenkamp distanzierte sich erneut von „Nazis“, die „nicht mit dem Grundgesetz vereinbar seien“. Für deren Anwesenheit beschuldigte er eine „Medienkampagne“ bzw. eine „Schmutzkampagne“, die er als „unverantwortliche Einladung“ an Rechte bezeichnete, an den Demonstrationen teilzunehmen. Von Anfang an seien die Hygienedemos falsch in den Medien dargestellt worden. Er stritt vehement ab, dass seine Bewegung rechtsoffen sei, obschon er zugab, dass „rechte Multiplikator:innen“ tatsächlich anwesend waren. Auf Lejeunes Nachfrage, wie er den Angriff auf das ZDF-Team vom 2. Mai bewerte, sagte Sodenkamp, dass er diesen zwar verabscheuenswürdig finde, allerdings auch zu prüfen sei, ob nicht „staatliche Mächte dahinter sind, die das initiiert haben“ (Quelle: YouTube).
Verschwörungstheoretisch, rechtslastig, skurrile Szenen: Spektrum und Personal der Coronademonstrationen
Das Personal der Coronademos rekrutiert sich weiterhin aus einer breiten Querfront von u.a. Rechtsextremen und -populisten, Verschwörungstheoretiker:innen, (religiösen) Esoteriker:innen, vereinzelten AfD-Politikern und unorganisierten und mit den Coronamaßnahmen unzufriedene Bürger:innen. Diesem Querfront-Spektrum hatte sich bereits am 25. April ein vornehmlich linker Gegenprotest entgegengestellt. Auch am ersten Maiwochenende gab es Proteste gegen die Hygienedemos. Bei den Teilnehmenden dieser Gegendemonstrationen handelte es sich um Personen aus dem linken, antifaschistischen Milieu. Mit Bannern und Plakaten protestierten sie gegen Rassismus und die AfD und skandierten in Liedern und Durchsagen gegen die Durchdringung der Hygienedemos durch rechtsextreme, populistische und verschwörungstheoretische Personen und Gruppierungen.
Auf den Hygienedemos sind im Beobachtungszeitraum wiederholt Personen aufgefallen, die sich zum Teil auf der Straße, zum Teil an Straßenrändern und auf Grünflächen zur „Ignorance Meditation“ niedergelassen hatten. Inmitten der lauten, sich bewegenden Demonstrant:innen und Passant:innen gaben diese Menschen, die im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen auf Decken und Matten saßen, ein kontrastierendes, teilweise abstruses Bild ab: einer der Teilnehmenden der Widerstands-Aktion führte seine Meditation auf einer Deutschlandfahne durch, ein weiterer Meditierender trug ein T-Shirt der kontroversen Rechtsrock-Band „Frei.Wild“ und ein Halstuch mit dem Schriftzug „erkennen / erwachen / verändern“. Dieser rekurriert auf verschwörungstheoretische Publikationen des Autoren Heiko Schrang.
Schrang gehörte zu den Personen, denen am 2. Mai der Zutritt auf den abgesperrten Rosa-Luxemburg-Platz gestattet wurde. Auf seinem T-Shirt war ebenfalls das „erkennen / erwachen / verändern“ -Logo abgebildet, das Bestandteil seiner Vermarktung ist. Er führte mehrere Interviews und Gespräche mit den Anwesenden, u.a. dem als „Volkslehrer“ bekannten Rechtsextremen Nikolai Nerling.
An den Kragen und Revers einiger anderer Demonstrant:innen blitzte die aus Alufolie gefertigte „Querdenkerbommel“, die das Erkennungszeichen der neugegründeten Partei „Widerstand 2020“ um den HNO-Arzt Dr. Bodo Schiffmann, den Rechtsanwalt Ralf Ludwig und Paartherapeutin Victoria Hamm ist. Diese Partei ist ein unmittelbares Produkt der Corona-Krise und wirbt mit ihren nahezu kometenhaft ansteigenden Mitgliederzahlen, die sich sieben Tage nach der Gründung laut eigenen Angaben bereits auf über 100.000 beliefen. Die Partei, der bisher noch ein Parteiprogramm fehlte, formiert sich zum Zwecke der Schaffung einer „wahrhaftigen“ Demokratie und gegen die vermeintliche Entrechtung und Unterdrückung des deutschen Volkes durch die Corona-Politik der Bundesregierung.
Vertreter:innen dieser parteilich-überparteilichen Gruppierung reihten sich damit ebenso in den verschwörungstheoretischen Kanon der Demonstrierenden der Coronademos ein, wie die Träger:innen der textilen, verschwörerischen „Gib Gates keine Chance“-Slogans (eine offenkundig zynische Anspielung auf die HIV-Pandemie), die Gründer der KDW um Anselm Lenz, der Meditations-“Sektierer“ Ken Jebsen, der sich im Zuge der Demonstrationen immer weiter in Verschwörungsideologeme versteigt, sowie die Anhänger:innen der übergeordneten Q-Anon-Bewegung, die sich die Protestbewegung und die Unzufriedenheit der Menschen mehr und mehr einzuverleiben scheint. Die unzufriedenen Bürger:innen, die sich von den politischen Extremen auf Nachfrage zwar distanzierten, jedoch kein Problem hatten, gemeinsam mit Vertreter:innen dieser Extreme zu protestieren, machten ihren Unmut durch das demonstrative Tragen ausgeklappter Zollstöcke und durch die Verwendung „falscher“ Masken (als Verkleidung) oder falsch getragener Masken zum Ausdruck.
Der „Volkslehrer“ Nikolai Nerling erschien ungeachtet der öffentlichen Distanzierung von seiner Person durch die KDW-Organisatoren wiederholt auf den Hygienedemos. Nach seinem Besuch der Demo am 25.04. hatte er in einem „Analyse“-Video auf YouTube die Protestbewegung als eindeutig linke und die Veranstalter, allen voran Lenz, als Kommunisten und Bolschewisten eruiert. Damit richtete er sich gegen mediale Einstufungen der Hygienedemos als Querfront- oder rechte Bewegung. In demselben Video vom 28.04. postuliert Nerling auch seine persönliche Deutung der Corona-Krise, die sich der gängig gewordenen Gates-Verschwörungstheorie anschließt (Link).
Weitere Personen, die dem rechtsextremen Milieu zuzuordnen sind und die Hygienedemos besuchten, waren u.a. Dietmar Hömke und Billy Six. Letzterer war im direkten Austausch mit dem Rote-Fahne-Blogger und erdogantreuen Holocaustverharmloser Martin Lejeune zu beobachten. In besonderem Maße verstörend war weiterhin der Auftritt des mehrfach vorbestraften Holocaustleugners Gerd Walther.
Wiederholt anwesend war der rechtsextreme Eric Graziani von der Patriotic Opposition Europe. Zu den Teilnehmenden gehörten weiterhin die AfD-nahe Bloggerin Carolin Matthie, die auf mehreren Hygienedemos sowie der AfD-Bundestagsabgeordnete Hansjörg Müller und Günther Lars von der AfD-Fraktion Brandenburg. Ein Demonstrationsteilnehmer trug eine gelbe Armbinde mit einem Davidstern, in dem das Wort „Jude“ stand. Dadurch relativierte er die Shoa antisemitisch und setzte sich in Bezug zu den jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, die zum Tragen eines so genannten „Judensterns“ gezwungen worden sind.
Eine kleine Gruppe von „Völkischen Siedler:innen“ machte durch das Verteilen selbstgebackener Kekse zur Rettung des Grundgesetzes auf sich aufmerksam. Während sie freundlich lächelnd und mit Bastkörben am Arm über den Theaterplatz spazierten, wurden sie von dem frenetischen Gesang gläubiger Christ:innen begleitet, die unermüdlich ihre Liebe zu Jesus Christus kundtaten und nahezu euphorisch versicherten, dass Gott uns vom Coronavirus heilen würde.
Über Verschwörungstheorien und ihre Anhänger:innen
Das Spektrum der Hygienedemonstrant:innen ist heterogen, hat jedoch eine gemeinsame Schnittmenge. Diese Schnittmenge scheint aus einer Grundanfälligkeit für und dem offenen Vertreten von verschwörungstheoretischen Narrativen zu bestehen. Woraus diese bestehen und warum sie geglaubt und verbreitet werden, soll in diesem Abschnitt erörtert werden.
Für die Verbreitung von Verschwörungstheorien gibt es verschiedene Ansätze. Zunächst: Verschwörungstheorien bieten unterkomplexe Welterklärungen in einer Welt, die als überkomplex und schwer durchschaubar wahrgenommen wird. Besonders in plötzlich eintretenden Krisen oder im Fall von neuartigen gesellschaftlichen Entwicklungen, beispielsweise einer globalen Pandemie, werden sie etabliert, da die eigentlichen Hintergründe, also z.B. die tatsächlichen ökologischen, wirtschaftlichen oder politischen Entwicklungen nicht oder nur mangelhaft verstanden werden. Insofern könnte man Verschwörungstheorien als eine Art unzulängliches Krisenmanagement einer realen Krise beschreiben: die Bedrohungen der Krise werden zwar wahrgenommen, allerdings in letzter Konsequenz in einer verschwörungstheoretischen Art und Weise gedeutet. Dabei folgen sie meist einem sehr einfachen Freund-Feind-Schema, bieten damit allerdings schnelle und suggestive Antworten.
Verschwörungstheorien bieten damit auch eine narzisstische Gratifikation für diejenigen, die sie vertreten, und geben ihnen in Zeiten einer schwer auszuhaltenden Ohnmacht oder der narzisstischen Kränkung, in dieser Welt nicht so wichtig zu sein, wie sie es in ihren grandiosen Fantasien gerne wären, ein Stück weit Sicherheit: Sie können sich nunmehr als Menschen inszenieren, die etwas „durchblickt“ haben, die sich den Status einer „erleuchteten“ Person geben können, die sich eben nicht „täuschen“ lassen, und die durch ihr Gebaren Anhänger:innen gewinnen um „denen da oben“, von denen man sich enttäuscht, verraten und vergessen glaubt, autoritär und strafbedürftig etwas entgegensetzen zu können.
Die Feinde in Verschwörungstheorien sind meist unsichtbar und nicht real, seien es geheime Netzwerke, versteckte Kommunikationskanäle, mächtige Einzelpersonen oder Großkonzerne. Sie verfolgen böse Absichten, die der Gruppe, der sich die Verschwörungstheoretiker:innen und ihre Anhänger:innen zugehörig fühlen, zuwider laufen. Auffällig bei diesem Ansatz ist immer, dass der erklärte Feind im Verborgenen agiert, dabei aber große Macht besitzt. Bekannte Beispiele sind die Illuminaten, verschiedene Großindustrielle oder Kapitalist:innen, Politiker:innen und, im modernen Antisemitismus das Judentum, in dem fast alle Verschwörungstheoretiker:innen in letzter Instanz den Feind erkennen.
Im Fall der Corona-Verschwörungstheorien gibt es verschiedene Varianten. Die KDW argumentiert etwas diffus, dass die Corona-Politik der globalen Regierungen eine „Diktatur“ etablieren solle, sei es aus Gründen einer überalterten, panischen Regierung oder um eine Finanzkrise zu vermeiden: Regierung und Pharmakonzerne hätten sich gemeinsam und im Geheimen verschworen, um andere Interessen durchzusetzen, als sie kommunizierten (vgl. auch ausführlich unsere letzte Analyse vom 22.04.20:). Auf den Demonstrationen wird propagiert, dass diese Interessen gegen das eigene Volk gerichtet seien, man die Strategie als vermeintliche Mehrheit aber durchschaut habe.
Das Corona-Virus selbst wird in den verschwörungstheoretischen Ansätzen entweder ganz in seiner Existenz geleugnet oder seine tatsächliche Bedrohung massiv heruntergespielt. Auffällig ist – und das zeigten auch manche Reaktionen auf den letzten Bericht der JFDA zur vierten Hygienedemo am 18.04. – dass verschwörungstheoretisch „anfällige“ Personen offenbar einen grundlegenden politischen Wandel und einen Systemwechsel ersehnen. Häufig finden sich Verweise auf die DDR und die Wende, die assoziativ und zusammenhangslos mit der aktuellen Situation verglichen werden: Die Polizei wird als Stasi imaginiert, die demokratische Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel als diktatorisches Einheitsregime, die Revolte gegen die Corona-Maßnahmen als neue „friedliche Revolution“, zu der sich auch die „Wir sind das Volk“-Parole gesellt, die ursprünglich auf den Montagsdemonstrationen 1989/90 gerufen wurde.
Signifikant ist außerdem, dass vermehrt Bezüge zur Aufnahme von Geflüchteten seit 2015 hergestellt werden. Auch hier wurde der Regierung von einem teils ähnlich aufgestellten Milieu unterstellt, eigentlich andere Interessen im Sinn zu haben, z.B. einen durch eine jüdische Verschwörung herbeigeführten Bevölkerungsaustausch. In beiden Fällen, so wird skandiert, würde die Politik gegen die „eigentlichen“ Interessen des „Volkes“ handeln, um dieses zu unterjochen, zu knechten, zu demütigen und letztendlich zu ersetzen.
Es ist ein krisenhaftes Subjekt, das sich aktuell in Verschwörungstheorien verliert und sich mit ihnen identifiziert. Die Krisensituation dürfte sich vermutlich aus mindestens zwei Faktoren speisen: einerseits der narzisstischen Kränkung, eine zunehmend komplexe Welt nicht angemessen verstehen und nach eigenen Wünschen gestalten zu können, andererseits einem groben Missverständnis demokratischer Grundwerte und in der Konsequenz eine emotionale Überforderung damit, staatliche Autorität am eigenen Körper zu erfahren. Die Parole „Wir sind das Volk“ ist dabei nicht zufällig gewählt: häufig wird im Kontext der Hygienedemos darauf verwiesen, dass in einer Demokratie die Souveränität vom „Volk“ ausgehe. Dabei scheint es sich aber um eine falsche Interpretation demokratischer Prinzipien zu handeln. Richtig ist, dass die Bevölkerung in freien und geheimen Wahlen Vertreter:innen wählt und damit bemächtigt, an ihrer statt Souveränität auszuüben. Das ist das Grundprinzip einer parlamentarischen Demokratie. Durch den Slogan „Wir sind das Volk“ soll suggeriert werden, dass diejenigen, die ihn äußern, als Vertreter:innen des Volkes auch staatliche Souveränität ausüben können bzw. dass Politiker:innen sich, indem sie gegen „den“ Willen „des“ Volkes handeln, antidemokratisch verhielten.
Zusammenfassende Einschätzung: Zunehmendes Gewaltpotential, Pressefeindlichkeit, antidemokratisches Ressentiment
Der Eindruck der Bildung einer Querfront auf den ersten Hygienedemos im März und April hat sich auch auf den Demonstrationen im Beobachtungszeitraum 25.04. bis 09.05. bestätigt. Während sich Vertreter:innen des linken Spektrums bis auf wenige unorganisierte Einzelpersonen und die Teilnehmenden der organisierten Gegenproteste auf den letzten Demonstrationen weniger beobachten ließen, ist von rechter und verschwörungstheoretischer Seite ein deutlicher Zulauf zu verzeichnen gewesen.
In Abgrenzung zu dieser Tendenz hatten sich verschiedene linke Gruppierungen und Initiativen in den vergangenen Wochen von der KDW und ihrer Protestbewegung distanziert. Die KDW ging zuvor teils mit fraglichen Methoden vor: am 25.04. hatte sie auf ihrem Facebookkanal angegeben, von der zivilgesellschaftlich-antifaschistischen Initiative „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)“ unterstützt zu werden – eine Behauptung, die unter dem entsprechenden Posting von dem offiziellen Facebook-Account der VVN-BdA umgehend und entschieden zurückgewiesen wurde. Ebenso hatte das „Zentrum für Politische Schönheit“ die Planung einer gemeinsamen Aktion mit dem Protest-Bündnis, die die KDW verlautbart hatte, dementiert. Auch die Volksbühne, die in der KDW-Zeitschrift „Demokratischer Widerstand“ als Redaktionssitz angegeben wurde, positionierte sich sichtbar und unmissverständlich gegen die Hygienedemos: An den Seiten des Gebäudes waren am 01. und 02. Mai (wie auch schon am 25.04.) Transparente mit der Aufschrift „Wir sind nicht Eure Kulisse“ angebracht, die offenkundig gegen Lenz und seine Gefolgschaft gerichtet waren. Am 2.Mai waren der Schriftzug der Volksbühne und die Statue auf dem Vorplatz dann gänzlich verhüllt. In der Ausgabe des „Demokratischen Widerstands“ vom 08.05.2020 findet sich nunmehr folgender Hinweis: „Wegen Androhung einer einstweiligen Verfügung: Wir weisen darauf hin, dass diese Zeitung keine Publikation der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter Interimsintendant Klaus Dörr oder dem hochbezahlten Senat-von-Berlin-Member Klaus Lederer ist“.
In der medialen Berichterstattung sowie der zivilgesellschaftlichen Debatte ist deutlicher als noch zuvor das Bewusstsein entstanden, dass sich bei den Hygienedemos eine ernstzunehmende, komplexe und gewaltbereite Bewegung etabliert hat. Wir haben mit unserer letzten Dokumentation und Analyse bereits auf das Potential des Personenkreises um die „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ sowie das Spektrum der Teilnehmenden der Demonstration aufmerksam gemacht. Spätestens seit dem 9. Mai dürfte klar sein, dass die Bewegung Auffangbecken und Identifikationsfläche für eine Reihe rechtsextremer und antidemokratischer Einstellungen, Ressentiments gegen die Presse und eine drastische Zuspitzung verschwörungstheoretischer Ideologeme geworden ist.
Dabei ist uns wichtig zu betonen, dass die KDW um Lenz und Sodenkamp zwar weiter beobachtet, aber in ihrer Wirkungsmacht nicht überhöht werden sollte. Richtig ist, dass die KDW diejenige Organisation war, die zu den Hygienedemos in Berlin aufgerufen und auch explizit dazu ermutigt hat, ähnliche Protestformen in anderen Städten durchzuführen. Dennoch: die sich relativ schnell auch in anderen Städten der Bundesrepublik verbreitenden Hygienedemonstrationen sind ein deutliches Indiz dafür, dass es sich hier nicht um eine politische Bekehrung durch die KDW, sondern um die Mobilisierung eines in breiten Teilen der Bevölkerung vorhandenen Potentials handelt: Das antidemokratische, verschwörungstheoretische Ressentiment ist schon zuvor da gewesen, es wurde durch die KDW lediglich in Bewegung gesetzt.
Dokumentation der „Hygienedemonstrationen“ in Berlin – Teil 2: 25. April bis 6. Mai 2020:
Dokumentation der „Hygienedemonstrationen“ in Berlin – Teil 3: 9. Mai 2020:
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