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Eine kritisch-analytische Zusammenfassung der Coronademonstrationen am 16. und 23. Mai 2020

Seit längerer Zeit erfreut sich ein Slogan großer Beliebtheit, der fälschlicherweise oft der Anarchistin und Feministin Emma Goldman zugeschrieben wird: „Wenn ich nicht dazu tanzen kann, ist es nicht meine Revolution“. Auch bei den vergangenen Coronademonstrationen wurde immer wieder ausgiebig getanzt und sich zu Musik quer durch die politischen Fronten bewegt – allerdings nicht für eine Revolution, sondern weiterhin gegen eine erwartete „Hygienediktatur“.

An den Wochenenden vom 16. und 23. Mai kam es in Berlin erneut zu Kundgebungen und Versammlungen im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung der Bundesregierung. Hatten sich die Hygienedemos und die Gegendemonstrationen in den vorangegangenen Wochen hauptsächlich auf die Umgebung des Rosa-Luxemburg-Platzes konzentriert, so hat an diesen Wochenenden eine Dezentralisierung und Erweiterung der Demonstrationsschauplätze stattgefunden. Rund 20 Demonstrationen sind am 16. Mai gemeldet worden, am 23. Mai waren es fast 40. Die Gesamtbeteiligung an den verschiedenen Aktionen blieb unterdessen hinter den Erwartungen zurück. Auch größere Auseinandersetzungen mit Polizist:innen, wie sie am 9. Mai auf dem Alexanderplatz zu verzeichnen waren, blieben aus. Als der Alex am 9. Mai von bis zu 1.200 Coronademonstrant:innen besetzt wurde, die auch öffentlichkeitswirksam auf den „Brunnen der Völkerfreundschaft“ kletterten, wirkte die Polizei unvorbereitet und überfordert. Dies war an den beiden darauffolgenden Samstagen nicht mehr der Fall. Konsequent ging die Polizei gegen größere Menschenansammlungen vor und war mit insgesamt über 1.000 Beamt:innen im Einsatz.


Die wichtigsten Schauplätze und ihre Akteur:innen:

Am Alexanderplatz und Neptunbrunnen

Seit dem 9. Mai gehört der Alexanderplatz mit angrenzendem Neptunbrunnen zu einem der Hauptschauplätze der Coronademonstrationen. Am 23. Mai kam es zu Szenen, die an eine öffentliche Coronaparty erinnerten. Am Nachmittag fanden sich bis zu 100 Demonstrant:innen zur „Freedom Parade“ am Berliner Neptunbrunnen ein und tanzten zu gefälligem Tech-House – und illustrierten dabei eindrücklich das Querfront-Spektrum der Coronaproteste: die Musik kam aus einer Anlage mit einem Bild der Gruppierung „Fetish For Future“, auf dem eine Gasmaske mit dem Logo der „Extinction Rebellion“ abgebildet ist. Beide Gruppierungen hatten im Jahr 2019 zusammen an verschiedenen Aktionen in Berlin teilgenommen. Angeleitet wurde der Tanz durch „Captain Future“, auf dessem Cape und Megafon ebenfalls das Logo von „Fetish For Future“ zu erkennen war. Martin Lejeune war ebenfalls auf der Tanzfläche. Captain Future tanzte bereits am 16.05. am Alexanderplatz, hielt ein Schild mit einem „Peace“-Zeichen und demonstrierte, wie der Tagesspiegel berichtete, „gegen jeden Extremismus“ – während wenige Meter hinter ihm unbehelligt der NPD-Politiker Udo Voigt ein Interview gab. (Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/rangeleien-festnahmen-friedlicher-protest-so-verliefen-die-corona-demonstrationen-in-berlin/25836628.html) Abgesehen von diesen Tanzaktionen konnten die Demonstrant:innen im Bereich des Alexanderplatzes aber nicht richtig Fuß fassen. Im Wortsinne musste dies die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und heutiges Kuratoriumsmitglied der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung Angelika Barbe erfahren, als sie hier am 16. Mai von der Polizei festgenommen und abgeführt wurde. Einsatzkräfte hatten die vielen Versammlungen an den Wochenenden stärker kontrolliert und den Zugang reglementiert. Mehr als 50 Personen wurden nicht zugelassen, alle Veranstaltungen, die dies nicht einhielten, wurden aufgelöst – auch auf Seite der Gegendemonstrant:innen.



Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz

Auf dem nahegelegenen Rosa-Luxemburg-Platz tanzten wie auch schon in den Wochen zuvor die antifaschistischen Echsen gegen die Instrumentalisierung der Coronademonstrationen durch Rechtsextreme und Verschwörungsideolog:innen. Die Anwohner:innen hatten erneut unter dem Motto „Reclaim Rosa-Luxemburg-Platz“ Zeichen gegen die Demonstrationen gesetzt. Auch die Volksbühne setzte ihre öffentliche Distanzierung zu der von der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand (KDW) ins Leben gerufene Hygienedemonstrations-Bewegung fort. „Wir sind nicht eure Kulisse“ war am 16. Mai auf den Bannern an der Fassade des Theaterhauses zu lesen. Einer, der das ignorierte, war der Holocaustleugner Reza Begi. Während er sich in einer polizeilichen Maßnahme auf dem Platz befand, skandierte der selbsterklärte „Messias“ über die Weltverschwörung der Rothschilds. Die temporäre Festnahme hinderte ihn nicht daran, auch am 23. Mai auf den Coronademonstrationen in Erscheinung zu treten, vor laufenden Kameras das Grundgesetz zu zerreißen und sich offen antisemitisch zu äußern.

Unter den Linden Eine spontane Tanzaktion entfaltete sich, als am 23. Mai gegen 16 Uhr ein Fahrradkorso und Teilnehmende einer vorangegangenen Versammlung auf der Straße Unter den Linden aufeinandertrafen. Zu den Klängen von David Hasselhoffs Hit „Looking for Freedom“ tanzten sie ungeachtet der Versammlungs- und Abstandsverordnungen und scheinbar auch ungeachtet ihres eigentlichen Demonstrationsanliegens. Ihre ausgelassene Partystimmung war mit den Sorgen und Ängsten um die persönliche Freiheit und die Wahrung der Grundrechte nicht in Einklang zu bringen, die die Demonstrant:innen in den vorherigen Wochen auf die Straße geführt hatten. Als die Menschenansammlung auf der Höhe der Russischen Botschaft auf über 200 Personen angewachsen war, trennten die Einsatzkräfte die Gruppe, verhinderten einen weiteren Zustrom und forderten die Personen auf, die Abstände einzuhalten bzw. den Ort zu verlassen. Auch hier kam es zu Freiheitsbeschränkungen gegen Personen, die den Aufforderungen nicht nachkamen. Am Großen Stern Der Platz um die Siegessäule im Tiergarten Berlin wurde am 16. Mai erstmals Ort einer Coronademonstration. Die Teilnehmenden des geplanten Spaziergangs „Weg zur Freiheit“, der von der Siegessäule bis zum Alexanderplatz verlaufen sollte, gelangten durch den Tiergarten auf den zentralen Platz am Großen Stern. Dieser war bereits von der Polizei abgesperrt worden. Die Protestierenden wurden auf die Straße des 17. Juni umgeleitet und hier von den Einsatzkräften in kleine Gruppen versprengt, was bis auf wenige verbale Auseinandersetzung friedlich verlief.

Bei den Demonstrationsteilnehmenden handelte es sich mehrheitlich um Bürger:innen, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild keinen politischen Gruppierungen zuzuordnen waren. Es waren Menschen aller Altersklassen vertreten, darunter auch Familien mit Kindern. Unter sie mischten sich mehrere Dutzend Hooligans und Personen aus dem rechtsextremen Spektrum, die durch szenetypische Kleidung und Tätowierungen auffielen. Neben diesen waren einige Personen anwesend, die sich durch Logos und Slogans auf der Kleidung als Anhänger:innen der QAnon-Verschwörungsideologie zeigten oder die „erkennen/erwachen/verändern“-Bewegung von Heiko Schrang unterstützten. Rechte Blogger:innen wie Stefan Bauer und „Digitaler Chronist“ berichteten vor Ort. Für den 23. Mai hatte ein Zusammenschluss von Menschen aus der Reichsbürger-Szene und dem rechten Spektrum am Großen Stern einen Aufmarsch unter dem Motto „Raus aus der Besatzung, zurück in die Freiheit“ angemeldet. Mit ihnen wechselte die soziale Schichtung der Demonstrant:innen an diesem Ort von einer heterogenen zu einer eindeutig rechtsextremen und -populistischen. Berliner Gelbwesten, Reichsbürger:innen und „Kaisertreue“ versammelten sich um das Bismarckdenkmal. Der Thorshammer schmückte viele Hälse und Accessoires. „Sieg oder Walhalla“-Aufdrucke und Runen kennzeichneten die Kleidungsstücke der Versammelten. Auch die Symbolik der QAnon-Verschwörungsideologie fand sich auf der Kleidung einiger Demonstrationsteilnehmer:innen wieder. Der mehrfach vorbestrafte Holocaustleugner Gerd Walther, der wiederholt auf den Hygienedemos zugegen war, zählte auch zu den Teilnehmenden, ebenso der rechtsextreme „Volkslehrer“ Nikolai Nerling und der Schweizer rechtsextreme Aktivist und Revisionist Bernhard Schaub. Die Veranstalter:innen der „Patrioten für Deutschland“ hatten eine mobile Bühne bereitgestellt, über die in großen Lettern der Schriftzug „Wir sind das Volk“ prangte. Sie wurde von den als „Pegida-Fahnen“ bekannten Wirmer Flaggen, Deutschlandfahnen und den schwarz-weiß-roten Flaggen des Kaiserreichs gerahmt, die auch viele der Teilnehmer:innen mit sich führten. Ein Organisator der Veranstaltung versuchte wiederholt mittels Durchsagen den Zustrom an Teilnehmenden zu unterbinden und die Pressevertreter:innen zum Verlassen des Ortes zu bewegen, da die gestattete Versammlungsgröße von 50 Personen überschritten war. Auch die Polizei bemühte sich, die Anzahl der Teilnehmenden zu regulieren. Da dies nicht gelang und bald um die 100 Personen auf dem Platz waren, mussten die Veranstalter:innen die Kundgebung abbrechen. Ein zweiter Versammlungsversuch wurde für denselben Nachmittag in der Paul-Löbe-Allee angesetzt und dort auch durchgeführt.

Weil auch nach dem Abbruch der Veranstaltung am Großen Stern zahlreiche Personen vor Ort blieben und das Infektionsschutzgesetz sowie die polizeilichen Lautsprecherdurchsagen missachteten, kam es zu mehreren Auseinandersetzungen und Widerstandshandlungen gegen die Einsatzkräfte, die etwa 60 vorrübergehende Festnahmen zur Folge hatten.



Am Brandenburger Tor Auch das Brandenburger Tor sollte am 16. und 23. Mai Ausgangspunkt für Demonstrations-Spaziergänge werden, die aber durch polizeiliche Absperrungen weitestgehend unterbunden wurden und sich an anderen Schauplätzen, wie der Straße Unter den Linden, verlagerten. Dafür fanden sich am 23. Mai um 13 Uhr Parteimitglieder und Anhänger:innen der Alternative für Deutschland (AfD) am Brandenburger Tor ein. Verteilt auf zwei Gruppen von jeweils ca. 40 Personen standen sie unter Berücksichtigung der Abstandsvorschriften links und rechts des Tores und demonstrierten „für das Grundgesetz und den Erhalt (der) Grundrechte auch in Corona-Zeiten“ (Zitat: http://afd.berlin/covid19-berliner-afd-demonstriert-fuer-grundrechte/). „AfD: Wir sind Grundgesetz“ war auf einem Plakat zu lesen. Auf einer Deutschlandfahne gedachte man des 71-jährigen Bestehens der Verfassung der BRD. Einige mediale Aufmerksamkeit erhielt die stellvertretende Bundessprecherin der AfD, Beatrix von Storch, die ein Schild mit dem Ruf nach „Meinungsfreiheit“ in die Luft hielt. Davon abgesehen blieb die Demonstration ruhig und sehr statisch und wurde nur von einer Gruppe tanzender und singender gläubiger Christen vor dem Brandenburger Tor aufgelockert, die von der allumfassenden Liebe Jesu Christi kündeten.


Um den Platz der Republik Der benachbarte Platz vor dem Reichstagsgebäude ist in den vorangegangenen Wochen zu einem „Hotspot“ der Protestaktionen gegen die Coronamaßnahmen geworden. Dies lag vor allem an den Auftritten des Verschwörungsideologien verbreitenden Kochbuchautors Attila Hildmann. Auch für die beiden Wochenenden vom 16. und 23. Mai hatte er Kundgebungen auf dem Platz der Republik angemeldet.

Für Aufsehen sorgte er am 16. Mai durch ein Zusammentreffen mit den Entertainer Oliver Pocher. Das Treffen war zuvor über die sozialen Medien vereinbart worden. Nach einem kurzen Schlagabtausch zwischen Hildmann und Pocher führte die Polizei den Entertainer aus Sicherheitsgründen wieder vom Platz. In der Zwischenzeit musste sich Hildmann der Kritik des antiisraelischen Aktivisten Fuad Musa (alias Fuad Afane) aussetzen. Dieser konfrontierte ihn mit dem Vorwurf der Aufhetzung sowie der Mobilisierung einer falschen Anhängerschaft insbesondere aus rechten und antisemitischen Kreisen. Hildmann stellte sich diesem Vorwurf nicht, sondern zog sich stattdessen zu seiner fast einstündigen Ansprache zurück, die er vor einer kleinen Gruppe von Journalist:innen hielt. Die meisten Inhalte seiner Rede waren bereits bekannt, und wiederholten sich so auch am darauffolgenden Wochenende. Eine neue Steigerung seiner Verschwörungsideologie fand ihren Ausdruck unterdessen in dem Vergleich mit dem Nationalsozialismus: Wenn Gates, wie Hildmann prognostiziert, 7,5 Milliarden Menschen durch seinen Impfstoff ermorde, seien damit die Ausmaße schlimmer als die Folgen der NS-Diktatur.

Bevor Hildmann am 23. Mai in Aktion treten konnte, musste er eine erneute Festnahme über sich ergehen lassen. Diese ereignete sich gegen 16 Uhr, als sich am Alexanderplatz bis zu 100 Personen um ihn versammelten und der Eindruck entstand, dass er unter Missachtung des Versammlungs- und Infektionsschutzgesetzes einen Aufzug durchführen wolle. Nachdem ihn die Polizei eine Stunde später wieder auf freien Fuß setzte, führte Hildmann seinen geplanten Weg zum Reichstagsgebäude fort und traf dort gegen 18 Uhr ein. Seinen Einzug auf dem Platz der Republik (bzw. die dahinter gelegene Wiese) hielt er, während er im Gehen ein Interview mit dem „Volkslehrer“ führte. Begleitet wurde er mit den Freiheitsgesängen seiner Mitläufer:innen, in die er beherzt mit einstimmte. „Die Gedanken sind frei“ bildete den Auftakt zu einer halbstündigen, wohl intonierten, sehr einstudiert wirkenden Rede über die Weltregierungspläne von Bill Gates und dem damit verbundenen Impfkomplott. Immer wieder streute er die rhetorische Frage nach dem „Wollt ihr das?“ in seine Rede und verfehlte damit nicht die gewünschte Wirkung auf seine Anhängerschaft.

Auswertung und Analyse


Unabhängig von der erhöhten Polizeipräsenz ist der Zenit der „Hygienedemos“ möglicherweise überschritten. Die Begeisterungswelle der Hygienebewegten scheint ob der fehlenden massenwirksamen Entfaltungsmöglichkeiten gedämpft, die zivilgesellschaftliche Empörung und Aufmerksamkeit scheint wieder abzunehmen. Daran lag es auch, dass die vergangenen Hygienedemonstrationen nichts „Neues“ lieferten: Abgesehen von vereinzelten neuen Protagonist:innen auf den Demonstrationen wie Oliver Pocher am 16.05. wirkte es so, als würden sich viele Szenen, Äußerungen, Parolen und Inszenierungen nur noch wiederholen und der Selbstvergewisserung aller Akteur:innen dienen. Es wirkt ein wenig wie in einer Talkshow, die jede Woche zum selben Thema stattfindet, nur dass sich alle bereits in den ersten Sendungen inhaltlich ausgesprochen hatten und nun kein neuer Input folgt. Die Argumente der Coronademonstrant:innen bleiben inhaltlich dieselben, die Verschwörungsnarrative ändern sich (noch) nicht (mehr) signifikant, kurzum: die Bewegung stagniert.

Es bleibt offen, wie sich die weiteren Demonstrationen und Kundgebungen entwickeln werden. Auch die Rolle der KDW, die initiale Akteurin der von vornherein und weiterhin rechtsoffenen und querfrontlerischen „Hygienedemos“, bleibt zu beobachten. Am kommenden Samstag, 30.05., hat sie erstmalig zu einer Kundgebung abseits des Rosa-Luxemburg-Platzes aufgerufen und in den Mauerpark geladen. Das namensgebende Ziel der Gegendemonstrant:innen aus dem Bündnis „Reclaim Rosa-Luxemburg-Platz“ scheint damit erreicht: vor der Volksbühne wird die KDW am Wochenende das erste Mal seit Beginn der „Hygienedemonstrationen“ nicht offiziell auftreten. Ungestört werden sie dort vermutlich allerdings nicht sein: Unter dem Motto „Reclaim Mauerpark“ wurde bereits zu Gegenprotesten aufgerufen.



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