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Dokumentation und Analyse der „Hygienedemo“ am 18. April 2020

Rufe nach dem Grundgesetz

Die „Hygienedemo“ wächst: Bereits zum vierten Mal haben sich am Samstag, 18.April 2020, bis zu 500 Personen einer breiten verschwörungsideologischen Querfront am Rosa-Luxemburg-Platz vor der Berliner Volksbühne zusammengefunden. Sie demonstrierten gegen die globalen politischen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und die angebliche Errichtung einer Diktatur der Bundesregierung sowie einer damit verbundenen Außerkraftsetzung des Grundgesetzes. Aufgerufen hatte die „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“, ein Verein in Gründung, bzw. die Webseite www.nichtohneuns.de, hinter der die Namen Anselm Lenz, Batseba N‘diaye und Hendrik Sodenkamp stehen. Alle drei sind journalistisch und dramaturgisch tätig sowie assoziiert mit dem „Haus Bartleby“, welches 2014 als künstlerischer Zusammenschluss mit Aktionen und Veröffentlichungen linksliberaler Kapitalismuskritik auf sich aufmerksam machte.

Das Spektrum der Teilnehmenden am 18.04. war allerdings weit heterogener: neben einigen dem politischen Spektrum nicht eindeutig zuzuordnenden Demonstrant:innen, die ihren Unmut über die Corona-Einschränkungen zum Ausdruck bringen wollten, und einigen vermutlich linken Demonstrant:innen, fanden sich schwerpunktmäßig Personen aus der verschwörungsideologischen bis rechtsextremen Szene wieder. Auf der Demo anwesend waren u.a. Ken Jebsen (KenFM, Anselm Lenz gab ihm bereits zwei Interviews), Martin Lejeune (Blogger und Holocaustrelativierer), Nikolai Nerling (der rechtsextreme „Volkslehrer“), Paula P’Cay und Uli Gellermann (beide u.a. RT-Deutschland-Journalist:innen), der CvD des rechten und seit März 2020 vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall gelisteten Compact-Magazins Martin Müller-Mertens sowie Einzelpersonen aus der rechten bis rechtsextremen Blogger- und Hooliganszene (bspw. von „Bärgida“). Dietmar Gröper, in der Vergangenheit u.a. Aktivist der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ sowie Teilnehmer an Veranstaltungen des rechtsextremen „Dritten Weges“ und dem rechtsextremen NS-Gedenktreffen „Tag der Ehre“ in Budapest, war ebenfalls als Demonstrant auf der Demo. Weiterhin waren auch Journalist:innen des russischen Fernsehsenders „Pervyj kanal“ anwesend und berichteten.

Teilnehmer:innen skandierten wiederholt Slogans wie „Wir sind das Volk“ und riefen laut nach dem „Grundgesetz“, bezeichneten Ansagen der Polizei lautstark als „Lüge“. Es fanden sich Symbole des verschwörungstheoretischen rechten amerikanischen QAnon-Netzwerks. Mehrere Demonstrierende äußerten offenkundig Sympathie für US-Präsident Donald Trump und seine Corona-Politik. Auf einem Schild eines Demonstranten stand mahnend und NS-relativierend „Ermächtigungsgesetz 2020?“, ein anderer Demonstrant hatte ein Banner mit dem Titel „Aufwachen Deutschland!!!“ dabei, auf dem die Namen verschiedener verschwörungstheoretischer und rechtsextremer Informationsquellen wie die Patriotic Opposition Europe, einprozentfilm, staatenlos.info und Einzelpersonen wie Martin Sellner (Identitäre Bewegung) aufgelistet waren. Das Rechercheportal „Friedensdemo-Watch“ hat einen Demonstranten dokumentiert, der eine gelbe Armbinde mit einem Davidstern trug, in dessen Mitte das Wort „Jude“ stand. Damit relativierte der Demonstrant den Holocaust, indem er sich in eine Reihe mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus stellte.

Bereits am 17.04. veröffentlichten Lenz, N’diaye und Sodenkamp zusammen mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben (zu dieser Verbindung siehe unten ausführlicher) die erste Ausgabe einer Zeitung, die nach Angaben der Homepage nichtohneuns.de in einer Auflage von 100.000 erschienen ist. Sie wurde auf der Demo verteilt, ist jedoch auch auf der Homepage einsehbar.

Es kam zu mehreren Festnahmen und Personalienfeststellungen. Die Stimmung unter den Demonstrierenden war deutlich gereizter und aggressiver als bei den vergangenen Veranstaltungen, was den Eindruck unterstreicht, dass der Verein und die Demonstration an Zulauf und Entschlossenheit gewinnen.


Gefahrenleugnung

Die Hygienedemo tritt nach eigenen Angaben (die folgenden Zitate stammen aus Homepage und Zeitung des Vereins) an, um gegen ein vermeintliches „de-facto-diktatorisches Hygiene-Regime“ zu demonstrieren, welches das Grundgesetz außer Kraft gesetzt habe. Die Maßnahmen gegen die aktuelle Pandemie des Coronavirus SARS-CoV-2 wertet sie als restlos überzogene, „der medizinischen Lage nicht angemessene“ Reaktionen einer in Panik geratenen Politelite, die einerseits aus eigener paranoider Todesangst, andererseits aus Angst vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems nun also ein quasi-totalitäres „Notstandsregime“ errichte, hinter dem wiederum ein „dystopisches Digital- und Pharmakonzern-Kartell“ stehe.

Die an der Demonstration teilnehmende Angelika Barbe, ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin, Kuratoriumsmitglied der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung und Teilnehmerin an PEGIDA-Demonstrationen, kommentierte, dass die eigentlichen Nutznießer hinter den Eindämmungsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus die WHO sowie Bill Gates seien, der an den zukünftigen Impfstoffen verdiene. Sie moniert, dass sie in ihrem Freundeskreis bereits viel Überzeugungsarbeit leisten musste, dass der Virus entgegen aller Tatsachen nicht tödlich sei. Die Gefahr des Coronavirus wird auch vom Verein geleugnet, die „gleichgeschalteten“ Medien, so heißt es in der vorliegenden Zeitung des Vereins, berichteten aber angeblich nur über das, was die Regierung vorgebe, offizielle Statistiken zum Verlauf und zur Verbreitung von SARS-CoV-2 werden angezweifelt.


Ausnahmezustand und Hygienediktatur: Giorgio Agamben und Anselm Lenz

Was erstaunt, aber nicht überrascht, ist, dass der postmoderne Ausnahmezustands-Philosoph Giorgio Agamben als Mitherausgeber der Zeitung genannt wird – es bleibt unklar, ob Agamben dem tatsächlich zugestimmt hat. Dennoch: Agamben ist durch seine an den nationalsozialistischen Philosophen Carl Schmitt angelehnte Theorie des biopolitischen Ausnahmezustands und des Homo Sacer in der Vergangenheit u.a. aufgrund eines inflationär gebrauchten Lagerbegriffs häufiger aufgefallen und kritisiert worden. Dass er sich nun im gesamtdeutschen Corona-Querfrontspektrum wiederfindet, ist bei genauerer Überlegung nur konsequent und wenig verwunderlich, denn auch zur Corona-Pandemie hatte Agamben sich bereits mit kontroversen polit-philosophischen Beiträgen geäußert.

Die globalen Maßnahmen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 beschrieb Agamben Ende Februar 2020 in einem Text mit dem aufschlussreichen (übersetzten) Titel „Die Erfindung einer Epidemie“, der im Journal des Vereins in deutscher Übersetzung neu abgedruckt wurde, als „eilige, irrationale und völlig ungerechtfertigte Notfall-Maßnahmen für eine vermeintliche Epidemie“. Die Erkrankung COVID-19 sei qualitativ nicht von einer regulären Grippe unterscheidbar, alle bisherigen präventiven Schritte der Regierungen der Welt dienten nur dazu, einem nicht näher definierten politischen Ausnahmezustand den Weg zu bahnen (vgl. auch http://www.journal-psychoanalysis.eu/coronavirus-and-philosophers/). Bereits Ende Februar 2020 war es allerdings wissenschaftlicher Konsens, dass diese Einschätzung über das Virus unhaltbar ist, außerdem waren die tatsächlichen Potentiale von SARS-CoV-2 bekannt, die sowohl Infektions- als auch Letalitätsrisiko von Influenzaviren in jeder Hinsicht übertrumpfen. Später im Text vergleicht Agamben die politischen Maßnahmen und Reaktionen auf das Coronavirus mit denen auf die Gefahren des internationalen Terrorismus – und leugnet damit effektiv die Unterschiede sowohl zwischen den Maßnahmen als auch den Phänomenen.

In seiner Sorge, gegen eine fiktive Epidemie solle aktuell eine reale Corona-Ausnahmezustandsdiktatur herbeigeführt werden, trifft Agamben sich nun also auf dem Papier und im Geiste mit Anselm Lenz und den Mitstreiter:innen der Hygienedemos. Was für Agamben der politische Ausnahmezustand ist, ist für Lenz et. al. die Diktatur bzw. ein „de-facto-diktatorisches Hygiene-Regime“, hinter dem ein mächtiges internationales Finanzkartell stecke – es überrascht nicht, aus welchen Gründen sowohl linke als auch rechte Verschwörungstheoretiker:innen an den Hygienedemos Interesse finden mögen.


Biopolitische Beweggründe der Hygiene-Demonstrant:innen

Aber warum eigentlich? Beziehungsweise: Was bewegt die Demonstrant:innen, warum sind sie so dermaßen davon überzeugt, dass die Corona-Maßnahmen den Auftakt zu einer dauerhaften biopolitischen Ausnahmezustands-Diktatur bilden? In einem auf der Seite nichtohneuns.de verlinkten (sehr langen und versatzstückartigen) Artikel, den Anselm Lenz im verschwörungstheoretischen Querfront-Magazin Rubikon veröffentlichte, wird darauf näher eingegangen.

Lenz sieht drei mögliche Gründe bzw. „Varianten“, warum die Politik nun eine vermeintliche Diktatur errichten wolle. Zunächst: das Virus sei „auch für Infizierte praktisch nicht tödlich“ und „nach derzeitigem Erkenntnisstand wahrscheinlich nicht gefährlicher als die Erkältungswellen, wie sie zu jedem Jahreswechsel über die Nordhalbkugel hinweg stattfinden“. Die Lungenkrankheit COVID-19 würde vielmehr „zu einem apokalyptischen Szenario erklärt“, zu einer „weltweiten massenpanischen Aufblähung eines nicht außergewöhnlichen Infektes“. Die „Ausnahmesituation“, in der wir uns faktisch befinden, wird zur Regel deklariert, eine „totale Machtübernahme“ finde statt.

Variante A: Die Coronamaßnahmen seien nichts anderes als eine politische Reaktion auf „Panikattacken überalterter Eliten ohne Nachfolger“. Das soll heißen: „Teile der Führungsschichten und Teile der Mittelschicht“ litten momentan an „Todesangstzuständen“, die sich in „Hitzewallungen, Schweißausbrüchen, Atemnot und Panikattacken“ äußern könnten – also mit Symptomen, die denen von COVID-19 nicht unähnlich sind. „Das Durchschnittsalter des Regierungskabinetts der Bundesrepublik Deutschland“, wird gemahnt, „liegt mittlerweile bei circa 54 Jahren“, der Durschnitt werde aber durch einzelne vergleichsweise junge führende Politiker:innen wie Jens Spahn und Franziska Giffey auch stark nach unten gedrückt. Aus übertriebener Angst vor möglichen Komplikationen mit SARS-CoV-2 geriete diese „überalterte Elite“ nun also in wahnhafte Panikzustände, die sie auf die restliche Bevölkerung übertrüge.

Variante B: Durch die Coronamaßnahmen werde eine „Renationalisierung des Kapitals“, ein „Neustart des Kapitalismus“ erzielt, um auch dem antikapitalistischen Potential völkisch-nationaler Bewegungen zuvor zu kommen. Der Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus solle durch eine Festigung von autoritären und totalitären Strukturen zuvorgekommen werden.

Variante C: Durch die Coronamaßnahmen solle der Klimawandel aufgehalten werden, es handele sich hier um eine „interdisziplinäre Selbstermächtigung der Wissenschaft“, eine „klimatologisch-epidemiologische Aktion“. Da unter den bisherigen globalen politischen Bedingungen eine dauerhafte Bewältigung des Klimawandels nicht möglich war, solle nun zu rabiateren Methoden gegriffen werden – unter Vortäuschung vermeintlich falscher Tatsachen einer globalen Pandemie.

Aus diesen drei Varianten ergeben sich für Lenz und seinen Verein auch drei mögliche Handlungsoptionen – wobei nicht deutlich wird, nach welchen Kriterien sich für eine dieser Varianten entschieden werde. Sollte sich Variante A als überzeugendste durchsetzen, müssten nach Lenz „umgehend“ Neuwahlen durchgeführt und die „panischen Regierungen“ so schnell wie möglich abgesetzt werden. Dass dies auch während einer „Universal-Quarantäne“ logistisch möglich sei, zeigten für Lenz die Kommunalwahlen in Bayern am 15. März 2020 – wohlgemerkt fanden diese genau eine Woche vor dem Beschluss zu erweiterten Beschränkungen sozialer Kontakte der Bundesregierung statt, die sich nur schwerlich als universale Quarantäne beschreiben lassen.

Szenario B ist etwas undurchsichtig, läuft aber offenbar auch eine Mischung aus zivilgesellschaftlicher Korrektur bzw. „demokratischer Mitsteuerung“ staatlichen Handelns sowie Volksentscheiden und Tribunalen hinaus. Falls sich hinter den Maßnahmen ein dystopisches „Komplott globaler Konzerne“ handele, müsse „umgehend“ gehandelt werden und müsse „eine verfassungsgebende Versammlung“ einberufen und eine „neue Republik“ etabliert werden.

Szenario C schließlich ist noch undurchsichtiger, sowieso ist überaus unklar, was die Szenarien und Varianten denn nun eigentlich sein sollen: Zukunftsentwürfe oder Zeitdiagnosen oder beides. Jedenfalls, so die „Conclusio“: hier würde ein durch besagten „interdisziplinären Wissenschaftsputsch“ evozierter „sanfte[r] Übergang in eine ökologische, soziale, liberale und demokratische Epoche“ stattfinden, der eigentlich sogar als begrüßenswert beschrieben wird. Dennoch müsse dieser von einer „kritischen Intelligenz“ begleitet werden, mit der Lenz entweder sich selbst oder seinen Verein oder beides meint.


Erste Analysen und Einschätzungen der Hygienedemos

Wie sich die Hygienedemos weiterentwickeln, lässt sich aufgrund ihrer relativen Neuartigkeit nicht treffsicher prognostizieren. Unsere Einschätzung ist allerdings, dass sich hinter diesem breit gefächerten Querfront-Spektrum aufgrund seiner tagesaktuellen Politik in einem Moment gesteigerter gesellschaftlicher Verunsicherung ein vermeintlich identitäts- und sicherheitsstiftendes Potential verbirgt, das den Demonstrant:innen Ausmaße einer breiteren Bewegung bescheren könnte. Eine kritische Analyse und Kommentierung bestehender demokratischer Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus ist selbstverständlich legitim. Bedenklich wird es unserer Ansicht nach nur spätestens, wenn verschwörungstheoretische Ideologeme und Inhalte in die Gesellschaftsanalyse implementiert werden und diese wiederum das verschwörungsideologische Querfront- und rechtsextreme Spektrum auf den Plan rufen. Eine Distanzierung von derlei Bewegungen und Einzelpersonen liegt seitens der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ bisher nicht vor. Daher muss zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgegangen werden, dass die Anwesenheit von Personen wie Nikolai Nerling, Ken Jebsen und Martin Lejeune sowie das Aufzeigen verschwörungstheoretischer und NS-relativierender Slogans mindestens toleriert, wenn nicht sogar begrüßt wird. Gerade vor dem Hintergrund, dass sowohl seitens zivilgesellschaftlicher Akteur:innen sowie den Behörden eindringlich davor gewarnt wird, dass die rechtsextreme Szene noch stärker als zuvor tödliche Gewalt ausüben könnte, erscheint die personelle Entwicklung der bisherigen Hygienedemos zunehmend bedenklich. Zu beobachten ist weiterhin die momentane Rolle der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. In der durch den Verein herausgegebenen Zeitung wird die Volksbühne als Redaktionssitz genannt. Laut eines Tweets des Twitter-Accounts der Volksbühne (@Volksbuehne) vom 19.04.2020 distanziert sich diese allerdings und prüft rechtliche Schritte. Ob Lenz et.al. auch innerhalb der Volksbühne einen Kreis von Unterstützer:innen haben, können erst zukünftige Entwicklungen bestätigen oder widerlegen.



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