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Die aktuelle Dynamik der Corona-Proteste: eine Einordnung

Aktualisiert: 30. Nov. 2021


Am vergangenen Samstag veranstalteten diverse Vereine, Parteien und Initiativen aus dem verschwörungsideologischen Spektrum einen sog. „Marktplatz der Demokratie“ auf dem Nettelbeckplatz in Berlin-Wedding. Der Zulauf war diesmal überschaubar, insgesamt fanden sich im Laufe der Zeit lediglich ca. 150 Personen ein. Mehrmaligen Aufforderungen der Polizei zur Einhaltung der Abstands- und Maskenpflicht wurde nicht nachgekommen. Die beteiligten Akteur:innen wirken mehr denn je isoliert.


Neben friedensbewegten bzw. antiimperialistischen Vereinen wie „Stopp Airbase Ramstein“ oder der Initiative „Free Assange Berlin“ waren vor allem Akteur:innen zugegen, die sich während der letzten Monate aktiv an verschwörungsideologischen und rechtsoffenen Corona-Protesten beteiligt haben. So waren unter anderem Initiativen wie „Studenten stehen auf“ und „Eltern stehen auf“, Medienprojekte wie die „Nachdenkseiten“ und der „Demokratische Widerstand“ sowie die Partei „dieBasis“ mit einem Stand vertreten. Auch die sich als linker Flügel des Spektrums inszenierende Gruppierung „Freie Linke“ verteilte Informationsmaterial an die Anwesenden.

Der Zulauf zum "Marktplatz der Demokratie" war überschaubar.

Der Name der Veranstaltung, „Marktplatz der Demokratie“, vermittelte Außenstehenden dabei einen falschen Eindruck über die tatsächlich transportierten Inhalte. Der Umstand, dass diejenigen, die sich an jenem „Marktplatz“ beteiligt haben, in großen Teilen über ein antimodernes und gleichzeitig irreführendes bzw. antidemokratisches Demokratieverständnis verfügen, stellt ein grundlegendes Problem dar. Dieser Umstand, verbunden mit dem Gefühl in einer angeblichen „Corona-Diktatur“ zu leben, hatte auch an diesem Tag zur Folge, dass zahlreiche Redner:innen falsche historische Analogien herstellten und auf verschiedene Widerstandskämpfer:innen wie Sophie Scholl und Bürgerrechtler:innen wie Martin Luther King rekurrierten und sie somit versuchten für sich und ihre Anliegen zu vereinnahmen. An verschiedenen Stellen war außerdem die Rede vom wieder aufkommenden Faschismus oder vermeintlichen Parallelen zur NS-Zeit.


Die letzten Wochen und Monate erwecken in Teilen jedoch den Eindruck, als habe sich die breite Öffentlichkeit mit der Tatsache abgefunden, dass Inhalte wie diese Woche für Woche deutschlandweit verbreitet werden. Zwar widmet sich die mediale Berichterstattung regelmäßig verschiedenen Teilaspekten der verschwörungsideologischen Bewegung, mit konkreten Akteur:innen, Handlungen oder Inhalten wird sich dagegen selten befasst. Der Diskurs reduziert sich zumeist auf Großdemonstrationen wie jene in Berlin oder Leipzig und auf eine allgemeine Betrachtung der Funktionsweise von Verschwörungsideologien (was in beiden Fällen überaus wichtig ist). Häufig wird der Glaube an jene Erzählungen dabei allerdings exotisiert bzw. externalisiert, das heißt, die damit verbundene Ideologie und Problematik wird auf einige wenige Einzelpersonen reduziert und somit als gesellschaftliches Randphänomen dargestellt. Währenddessen haben sich im Schatten der sog. „Querdenken“-Bewegung (die seit April 2021 durch den Bundesverfassungsschutz beobachtet wird) verschiedene Initiativen und Gruppen gegründet und etabliert, die im Laufe der vergangenen Monate ausreichend Zeit und Gelegenheit für den Aufbau einer Organisations- bzw. Vernetzungsstruktur gehabt haben – stets verbunden mit einer kontinuierlichen Radikalisierung.


Dass der Glaube an Verschwörungsideologien im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie mitunter auch in Deutschland zu tödlichen Handlungen führen kann, ist spätestens seit dem 18. September 2021 bekannt. An diesem Tag erschoss ein Mann einen jungen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein, nachdem dieser ihn auf die bestehende Maskenpflicht hingewiesen hatte. Dass entsprechende Akteur:innen eine fortbestehende Pandemie verleugnen und auf diese Weise über mehr als 100.000 Corona-Tote hinwegsehen und außerdem durch ihr Handeln zahlreiche weitere billigend in Kauf nehmen, ist elementarer Bestandteil und gleichzeitig eine der tragenden Säule der Proteste. Es ist beschämend, wenn eine Person wie Hendrik Sodenkamp, einer der Herausgeber des Berliner Zeitungsprojekts „Demokratischer Widerstand“, sich in seinem Redebeitrag auf dem sog. „Marktplatz der Demokratie“ in Berlin süffisant über eine neue Virusmutation belustigt, die nach allen Informationen, die bisher zur Verfügung stehen, hochgradig ansteckend ist.


Hendrik Sodenkamp mit einer Ausgabe der Zeitschrift "Demokratischer Widerstand"

Während die Zahlen der Neuinfektionen explosionsartig steigen und Krankenhäuser (erneut) an ihre Grenzen stoßen, nehmen auch die verschwörungsideologischen Proteste, die sich vorgeblich gegen die Maßnahmen richten, wieder Fahrt auf. Aus diesem Grund wird nicht nur in Berlin oder Leipzig demonstriert. Seit einigen Wochen, auch bedingt durch die sich zuspitzende Corona-Situation in Sachsen, demonstrieren auf Initiative der rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“ Tausende durch sächsische Städte wie Freiberg oder Zwickau. Die Stimmung dort ist aufgeheizt und aggressiv und droht in vielen Fällen zu eskalieren: Vermehrt kam es zu Angriffen auf anwesende Pressevertreter:innen, so zum Beispiel am 9.11., als ein Fernsehteam des MDR aus einer nicht genehmigten Versammlung in Zwickau heraus angegriffen wurde. Auch für den heutigen Montag (29.11.) haben sich wieder zahlreiche Akteur:innen trotz Verboten zu Protesten in verschiedenen sächsischen Orten angekündigt, darunter auch die NPD Sachsen. Der „Demokratische Widerstand“ ruft seine Leser:innen in seinem wöchentlichen Newsletter gemeinsam mit dem extrem rechten Medium „Compact Magazin” von Jürgen Elsässer und dem rechtsradikalen Portal „PI News” dazu auf, die „Mitmenschen und Freunde in Freiberg nicht allein zu lassen und Seite an Seite mit ihnen zu kämpfen!“


Insgesamt sind für heute Abend in ca. 70 Städten und Dörfern in Sachsen sog. „Spaziergänge“ angekündigt. Mit großem Zulauf ist in diesem Zusammenhang vor allem in Städten wie Bautzen, Chemnitz, Dresden, Freiberg, Plauen oder Zwönitz zu rechnen. Schon gestern, am 28. November 2021 versammelten sich beinahe 1.000 Personen in Plauen zu einem sog. „Corona-Spaziergang“. Im Rahmen einer Personenkontrolle wurde hier ein Polizeibeamter leicht verletzt. Angriffe auf Polizei oder Presse stellen in entsprechenden Kontexten mittlerweile vielmehr die Regel als die Ausnahme dar, auch in anderen Teilen Deutschlands.


In Hamburg versammelt sich seit einigen Wochen eine zunehmende Zahl von Demonstrant:innen aus dem verschwörungsideologischen bzw. extrem rechten Spektrum zu Aufmärschen, am vergangenen Samstag waren es zwischen 3.000 und 4.000. Daran beteiligten sich Teile des Vorstands der AfD Hamburg, Neonazis und Anhänger:innen der Partei „dieBasis“. Auch hier wurden NS-Vergleiche getätigt. Auch hier wurde gegen Politiker:innen sowie Journalist:innen gehetzt und anwesende Pressevertreter:innen bedroht. In München versammelten sich in Reaktion auf den Tod von Karl Hilz, dem Mitbegründer der selbsternannten „Polizisten für Aufklärung“ und einer der Galionsfiguren der Bewegung, mehrere hundert Menschen. Dort kam es ebenfalls zu tätlichen Angriffen auf Pressevertreter:innen und pietätlosen Vergleichen zwischen Karl Hilz und Sophie Scholl.


Ein Blick in den Norden und in den Süden Deutschlands zeigt also: Es wäre zu leicht, die Problematik der Corona-Proteste allein auf eine gewissen Region in Deutschland zu reduzieren. Gleichzeitig ist dennoch zu betonen, dass die sich zuspitzende Situation in Sachsen, auch zusammenhängend mit der an Einfluss gewinnenden Partei „Freie Sachsen“ ein enormes Risikopotenzial bedeutet.


Nicht erst seit der Tat in Idar-Oberstein ist bekannt: Die Radikalisierung der Bewegung äußert sich jedoch schon lange nicht mehr allein im Zusammenhang mit den regelmäßig stattfindenden Demonstrationen. Deutlich wird das in regelmäßigen Berichten darüber, dass Personen tätlich angegriffen oder Brandanschläge verübt werden. In Hamburg kam es jüngst zu einem Vorfall, bei dem eine Person einen Türsteher mit einer Gaspistole aus kurzer Distanz ins Gesicht schoss, nachdem dieser ihm aufgrund einer fehlenden Maske den Zugang zu einem Kulturverein verwehrt hatte. In Zittau schließt ein Betreiber sein Corona-Testzentrum, um seine Angestellten vor weiteren Angriffen zu schützen.


Eine Liste ähnlicher Vorfälle ließe sich noch lange weiterführen.

Verbunden mit der öffentlichen Debatte um eine mögliche Impfpflicht, die sich anbahnenden Kontaktbeschränkungen oder einem möglichen weiteren Lockdown wird die Zahl entsprechender Vorfälle höchstwahrscheinlich noch weiter steigen. Damit verbunden ist mit einem erneuten Aufflammen der Protestbewegung zu rechnen. Zwar werden die Teilnehmendenzahlen womöglich nicht an die Zahl des vergangenen Jahres heranreichen, doch führte die beschriebene Radikalisierung schon während der letzten Male zu einer feindseligen, hoch aggressiven Stimmung. Es gilt demnach mehr denn je, die Gefahr, die von entsprechenden Akteur:innen und der Bewegung ausgeht, ernst zu nehmen. Die nächste bundesweite Demonstration ist für den 4. Dezember in Berlin angemeldet. Hierzu haben sich auch die Beteiligten des „Marktplatz der Demokratie“ angekündigt.


Bilder: Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.

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