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Namenslesung zum 78. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung am IG-Farben Campus



In Gedenken an die Opfer des KZ Auschwitz III Buna-Monowitz

Am 27. Januar 2023 jährte sich die Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager in und um Auschwitz durch sowjetische Truppen zum 78. Mal. Die Initiative Studierender am IG-Farben Campus in Frankfurt am Main organisiert seit 2002 eine Lesung der Namen der Opfer des Konzentrationslagers Auschwitz III Monowitz und gedenkt so der Opfer der NS-Mordlager. Vorgelesen werden die teilweise nicht vollständig und schwer zu entziffernden Namen und Daten, der noch erhaltenen, sogenannten „Überstellungslisten“ von Buna-Monowitz nach Birkenau. Die letzten Seiten der Dokumente beziehen sich auf den Zeitraum ab Oktober 1944 und beinhalten kaum mehr Namen, sondern (nur noch) die Häftlingsnummern derer, die von Auschwitz III Buna-Monowitz in das Vernichtungslager Birkenau verschleppt und dort ermordet wurden. [1][2]


Der Studierenden-Initiative ist es ein Anliegen, durch die Lesung die Universitätsöffentlichkeit in ihrem regulären Betrieb mit der nach wie vor relevanten Geschichte des Ortes zu konfrontieren: Auf dem IG-Farben Campus zu studieren und zu arbeiten sollte auch eine Auseinandersetzung mit dem Gebäude, das untrennbar mit dem Lager Buna-Monowitz verbunden ist, beinhalten.

In dem ehemaligen Hauptsitz des IG-Farben-Konzerns sind heute verschiedene Räumlichkeiten der Goethe-Universität untergebracht. 2001 zogen die geisteswissenschaftlichen Institute der Goethe-Universität in die Gebäude der ehemaligen Zentrale des Chemiekonzerns IG-Farbenindustrie im Frankfurter Westend ein. Die „Interessengemeinschaft“ (I.G.) Farben zählte zu den größten Profiteuren der NS-Herrschaft und war in vielerlei Hinsicht aktiv am systematischen Massenmord von Jüdinnen:Juden beteiligt. Auf diese geschichtliche Verstrickung will die Initiative verweisen.


Teil der „Überstellungslisten“ ist eine überlieferte Aufstellung, die die Zusammensetzung der Häftlinge dokumentiert, die sich am 13. Januar 1945, kurz vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen noch in Buna-Monowitz befanden und nicht auf die Todesmärsche in Richtung des Deutschen Reichs gezwungen wurden. Die Statistik der Dokumente zeigt, dass ein Großteil der Häftlinge 90 bis 95 Prozent Jüdinnen:Juden waren. [3]


Monowitz stellt im bundesdeutschen Gedenken eine Leerstelle dar. Im dominanten Diskurs wird Monowitz, trotz sehr bekannter Zeitzeugenberichte von beispielsweise Norbert Wollheim, Primo Levi oder Jean Améry, in das Gedenken an Auschwitz eingegliedert. Hierdurch wird die Spezifität und Eigenständigkeit des Lagers Buna-Monowitz verkannt, dem ab Ende 1943 die meisten Nebenlager von Auschwitz unterstanden.


IG-Farben und das KZ Buna-Monowitz


Bereits 1933 pflegt der IG-Farben-Konzern gute Kontakte zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), ab 1938 sind fast alle Mitglieder des Vorstands, des Zentral-Ausschusses sowie alle leitenden Mitarbeiter der Berliner Zentral- und Vierjahresplanstellen Mitglieder der Partei. Als federführendes Unternehmen der Kriegswirtschaft des Deutschen Reiches gründete die IG-Farben 1941 die IG Auschwitz. Neben der Produktion von synthetischem Gummi und Benzin war das Projekt Teil der Vertreibungs- und Germanisierungspolitik des Deutschen Reichs. Ein Jahr später, im Oktober 1942, wurde das firmeneigene KZ Buna-Monowitz als Teil des Lagerkomplexes von Auschwitz eröffnet. Die dort Inhaftierten vornehmlich Männer werden als Zwangsarbeiter auf der Baustelle der IG Auschwitz eingesetzt. Die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen und regelmäßigen Selektionen nahmen dabei den Tod der Häftlinge nicht nur hin, sondern waren ein bewusst gewähltes Mittel, durch das sich die produktive Vernutzung der Häftlingsarbeitskraft in das nationalsozialistische Projekt der Mordfabriken fügte. Über 25.000 von ihnen starben auf der Baustelle, im Lager, oder wurden nach der Selektion in Auschwitz-Birkenau ermordet. Einige wurden bereits am 18. Januar 1945 auf Todesmärsche getrieben. [4]


Das Norbert Wollheim Memorial


„Wir sind gerettet, aber wir sind nicht befreit“ – Norbert Wollheim, 26. August 1945

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wollheim_Memorial.jpg

Einer der Überlebenden ist Norbert Wollheim. 1913 in Berlin geboren, wurde er 1943 nach Auschwitz deportiert, wo er im KZ Buna-Monowitz Zwangsarbeit verrichten musste. Nach der Befreiung durch die Alliierten nahm Wollheim sein soziales Engagement aus der Zeit vor und während der nationalsozialistischen Verfolgung wieder auf. Er sagte in mehreren Nachkriegsprozessen aus und verklagte 1951, nach seiner Migration in die USA, den IG-Farben-Konzern auf Entschädigung für entgangenen Lohn und Schadensersatz in einem Prozess am Frankfurter Landgericht. [5] Dieser Musterprozess führte zur ersten, wenn auch geringen Entschädigungszahlung an ehemalige NS-Zwangsarbeiter:innen durch ein deutsches Unternehmen.


2008 wurde ein Denkmal für Wollheim und weitere Überlebende am IG-Farben-Campus errichtet. Das Memorial besteht aus einem kleinen Pavillon – dem ehemaligen Pförtnerhäuschen auf der Anlage der IG-Farben – und Bildtafeln mit Fotografien von ehemaligen Gefangenen. Über der Tür des Pavillons ist eine Nummer angebracht: 107 984, die Häftlingsnummer Norbert Wollheims. In Verbindung mit vertiefenden historischen Informationen und Dokumenten, die auf der dazugehörigen Website abrufbar sind, soll das Memorial das Gedenken an die Opfer von Buna-Monowitz kontextualisieren. Durch Erinnerung und Aufklärung werden Fragen nach Zeugenschaft und Gedenken aufgeworfen. Zentral sind dabei die Zeugnisse der Überlebenden des Lagers Buna-Monowitz. Um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, haben Überlebende des Konzentrationslagers gefordert, den ehemaligen Grüneburgplatz als Anschriftsadresse der Universität in Norbert-Wolheim-Platz umzubenennen. 2014 hat die Universität nach vorherigen Bestreiten ihrer Zuständigkeit und durch Druck der Öffentlichkeit der Umbenennung stattgegeben, nicht aber ohne zusätzlich auf eine andere Anschriftsadresse auszuweichen. [6]


Der „Campus Westend“ heute


Auf der Website der Goethe-Universität lässt sich folgendes Zitat finden:


„Das Gebäude des ehemaligen Konzernverwaltungssitzes der Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG [...] [sic!] hat eine bewegte Geschichte“. [7]


Dieses Zitat ist insofern interessant, als dass es sich eines Euphemismus der „bewegten Geschichte“ bedient. Außerdem werden die andauernden Auswüchse des Antisemitismus in der Vergangenheit verortet, da das Gebäude nun „[i]m Bewusstsein der Geschichte des Hauses [...] [k]ünftig der Lehre und Forschung“ dient. Dieses zweite Zitat lässt sich einer Gedenktafel entnehmen, auf der außerdem ein Auszug von einem Text Jean Amérys zu finden ist: „Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. Man soll und darf die Vergangenheit nicht ‚auf sich beruhen lassen ‘, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwart werden könnte“. [8] Die Bezugnahme der Universität auf eine lediglich „bewegte Geschichte“ steht im Widerspruch zur Aufforderung Amérys.


Die erwähnte Gedenktafel befindet sich vor dem Haupteingang des IG-Farben Gebäudes. Als die Universität 2001 in das Gebäude einzog, weihten das Fritz Bauer Institut und die Universität die Gedenktafel ein. [9] Sie wurde durch das Betreiben der Lagergemeinschaft Auschwitz Monowitz, einem Verein ehemaliger Auschwitz-Häftlinge – und gegen den Willen der Universität angebracht. Obwohl die Überlebenden ausdrücklich gefordert hatten, dass die Gedenktafel möglichst präsent und aufrecht befestigt wird, wurde die Tafel liegend angebracht.


Die Verbrechen, die vom IG-Farben Konzern ausgingen, lassen sich dem Gebäude nicht auf den ersten Blick ansehen. Das Lager Buna-Monowitz und die irreversible Verbindung zur IG-Farben und somit auch zur Goethe-Universität, ist fortwährend bedeutsam. Vor allem wenn, wie auf der Gedenktafel behauptet, eine Unvereinbarkeit von Forschung und Bildung und Nationalsozialismus und Barberei konstatiert wird. Diese Gegenüberstellung verkennt, wie umfassend die Zustimmung auch der studierten Bevölkerung für den Nationalsozialismus war.


Am Beispiel der IG-Farben zeigt sich, dass der Zweite Weltkrieg und die Verbrechen des Holocaust nur unter der Vorbedingung modernster wissenschaftlicher und technologischer Innovation zu vollziehen war. Kultur und Barbarei stehen sich nicht einfach diametral gegenüber und schließen sich nicht selbstverständlich aus. Für eine kritisch-analytische Gedenkkultur, die Geschichte als unabgeschlossen versteht, muss auf die ideologischen Verbrechen der Vertreibung, Zwangsarbeit und des systematischen Massenmords hingewiesen werden. Der 27. Januar ist seit 1996 ein gesetzlich verankerter Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Da er sich auf den Tag bezieht, an dem die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit hat, ist häufig die Rede vom „Tag der Auschwitz-Befreiung.“ Insbesondere aus bundesdeutscher Perspektive sollte man sich der Ambivalenz dieser Bezeichnung bewusst werden. Sie transportiert eine affirmative Staatskultur des Erinnerns und besitzt in der politischen Öffentlichkeit einen Resonanzraum. Das Verstörende des Auschwitz-Komplexes tendiert in der gegenwärtigen Erinnerungskultur folglich dazu, sich störungsfrei in den Alltag einzufügen. Dem unbekümmerten Umgang mit der Erinnerungskultur als einer vermeintlich „bewegten Geschichte“ ist die Einsicht entgegenzusetzen, dass nicht die Vergangenheit allein darüber entscheidet, was Platz im kollektiven Erinnern findet, sondern die jeweilige Gegenwart diese Entscheidung immer wiederholend trifft und sich die aktuelle Erinnerungskultur in diesem dauerhaften Spannungsgeflecht befindet.


Für die Goethe-Universität gilt es, auch in Zukunft darüber nachzudenken, wie man der bleibenden Verbindung mit Buna-Monowitz gerecht werden kann. Voraussetzung dafür ist, zu wissen, dass sie besteht.



Quellen:



[2] Die Dokumente sind als PDF-Dateien auch auf der Seite des Norbert Wollheim Memorials zu finden.


[3] Berger, Sara. 2022. Die Ausstellung »Die IG Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz. Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus«. In IG Farben zwischen Schuld und Profit; Abwicklung eines Weltkonzerns, herausgegeben von Alexander Jehn, Albrecht Kirschner, Nicola Wurthmann, S. 60-69. Marburg: Historische Kommission für Hessen.






[8] Améry, Jean. 2002 [1970]. Vorwort zur Taschenbuchausgabe. Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In Werke. Bd. 2, herausgegeben von Ders., S. 626–628. Stuttgart: Klett-Cotta.


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