Im Rahmen einiger Gedenkkundgebungen anlässlich des rassistischen rechtsterroristischen Attentats in Hanau vor einem Jahr (19.02.2020) ist es am vergangenen Wochenende zu antisemitischen Vorfällen gekommen. In Stuttgart ist eine jüdische Gruppierung von einer Bündnisveranstaltung anlässlich des Gedenkens ausgeladen worden, in mindestens drei anderen Städten waren Gruppierungen oder Einzelpersonen in den Gedenkbündnissen versammelt, die antiisraelische und antisemitische Narrative verbreiteten und das Gedenken an Hanau für eigene politische Anliegen instrumentalisierten.
Stuttgart: Ausladung jüdischer Vereinigung JSUW aus Bündnis nach Drohungen
Am 18.02.21 schrieb die Jüdische Studierendenunion Württemberg (JSUW) in einem auf der Plattform Instagram veröffentlichten Statement [1], dass sie, nachdem sie auf den Antisemitismus der im lokalen Bündnis teilnehmenden Gruppierung “Young Struggle” aufmerksam gemacht und deren Ausladung gefordert hatte, selbst aus dem Bündnis ausgeladen worden sei. “Young Struggle” ist eine bundes- und teilweise europaweit agierende marxistisch-leninistische Jugendorganisation.
Die Kundgebung und das Bündnis wurden organisiert von der örtlichen Gruppierung “Migrantifa Stuttgart”, von der die JSUW im Vorfeld eingeladen worden war und zu der sie freundschaftliche Kontakte pflegte. Sie zeigte sich zunächst solidarisch mit der vorgetragenen Kritik und lud die Gruppe “Young Struggle” aus.
Die Migrantifa Stuttgart erhielt jedoch nach der Ausladung Aufforderungen bis hin zu Drohungen, die JSUW nun ebenfalls auszuladen. Diesen Forderungen kam sie nach. Laut Statement der JSUW begründete die Migrantifa Stuttgart ihre Ausladung mit dem Argument des Selbstschutzes und damit, dass das im Fokus stehende Gedenken an Hanau nicht durch eine mögliche Gegenkundgebung irritiert werden sollte.
Für die JSUW komme ihre Ausladung einer Bestrafung dafür gleich, überhaupt auf Antisemitismus im Bündnis aufmerksam gemacht zu haben. Sie äußerte sich bestürzt, verärgert und schockiert. Überrascht zeigte sie sich allerdings nicht: “Jüdische Stimmen sind immer wieder von linkem Aktivismus ausgeschlossen und werden aufgrund von Antisemitismus nicht gehört”, heißt es in dem auf Instagram veröffentlichten Statement.
Köln, Münster, Wien: Antikolonialer Antisemitismus und Vorwurf eines “jüdischen Faschismus”
In den Städten Köln und Münster waren laut mehrerer Meldungen in den Sozialen Medien ebenfalls Gruppierungen in lokalen Hanau-Gedenkbündnissen vertreten, die in der Vergangenheit durch antisemitische Statements aufgefallen sind. In Wien hielt eine jüdische Aktivistin eine Rede, in der der Rechtsterrorismus von Hanau in eine Linie mit einem nicht näher beschriebenen “jüdischen Faschismus” gestellt wurde.
Köln
In Köln wurde die Gruppierung “Palästina Spricht NRW” in den Sozialen Medien für antisemitische Redeinhalte auf der Hanau-Gedenkkundgebung kritisiert - unter anderem griff sie auf den in antiisraelischen Kreisen weit verbreiteten Slogan “From the river to the sea, Palestine will be free” zurück: Sie wünschten sich laut Rede “eine Welt, in der nicht nur Menschen in Palästina vom Fluss bis zum Meer, sondern alle Menschen überall frei von siedlungskolonialistischer Unterdrückung, Apartheid, Ausbeutung und Patriarchat leben können." Hier wird der Staat Israel, auf den sich offenkundig bezogen wird, falsch mit Siedlungskolonialismus und Apartheid gleichgesetzt. In einem nachgelieferten Statement vom 20. Februar zu diesen Vorwürfen, die sie zurückwies, postete die Gruppe ein Bild eines Banners mit der Aufschrift “MIGRANTIFADA BIS ZUM SIEG” [2]. Hierbei handelt es sich um einen Bezug auf die (erste oder zweite) Intifada, also um terroristische Aufstände und Angriffe gegen Israel und jüdische Zivilist:innen.
Auch ein lokaler Ableger von “Young Struggle” war, wie ebenfalls in Stuttgart, am Bündnis beteiligt und hielt einen Redebeitrag. In diesem wurde, so schreibt das “Bündnis gegen Antisemitismus Köln” in einem Statement, ein “unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Morden eines deutschen Rechtsterroristen in Hanau, den Angriffen des türkischen Regimes und des djihadistischen IS auf die kurdische Bevölkerung in Rojava sowie einem vermeintlichen “Bombardement” der palästinensischen Bevölkerung im von der islamistischen Terrororganisation beherrschten Gaza-Streifen durch - vermutlich - Israel hergestellt” - ein irritierender und falscher Relativismus. [3]
Münster
In Münster war die Gruppe “Palästina antikolonial” (PA) Teil des Gedenkbündnisses zu Hanau und hielt ebenfalls einen Redebeitrag. PA schrieb unter anderem in einem Facebook-Post im November 2020, dass der Holocaust ein politisches “Werkzeug” der israelischen Politik sei, “das manipuliert werden kann”. [4] Das “Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Münster” hat den Auftritt von PA in einem Facebookstatement kritisch kommentiert: “Palästina Antikolonial hat am seit seiner Gründung regelmäßig mit antisemitischen Statements von sich Reden gemacht. Auf ihrer ersten Kundgebung am 25. Juli 2020 stellten sie Israel als „Apartheidstaat“ dar. Dies ist eine krude Lüge und Dämonisierung Israels. In Israel haben alle Staatsbürger die gleichen Rechte. Ferner wurde sich damals mit allen „Widerstandsformen“ der Palästinenser solidarisiert, also auch dem Terror gegen israelische Zivilisten, seien es Selbstmordattentate, Ramming-Attacks, Raketen, Brand- Luftballons, Steine oder andere Formen des Terrors.”
Diese Positionierung war lange bekannt - gerade deswegen ist das JuFo der DIG empört darüber, dass PA dennoch Teil des Hanau-Gedenkbündnisses sein konnte. Abschließend kommentiert die Gruppe: “Die 1.000 Menschen, die vorgeblich den Opfern eines rassistischen Terroranschlags gedenken wollten, müssen sich fragen lassen, warum sie israelbezogenen Antisemitismus geduldet haben. [5]
Wien
In Wien wurde in einem Redebeitrag der jüdischen Aktivistin Isabel Frey [6] darauf verwiesen, dass Antisemitismus zwar nicht verschwunden sei, aber nur noch in Internetforen der Alt-Right-Bewegung und in den Kellern von Burschenschaften existiere. Ferner sei die jüdische Forderung, dass ein Holocaust am Judentum sich nicht wiederhole, eine Art von “jüdischem Faschismus”. Laut einem nachträglich von der Rednerin auf ihrem Twitter-Account hochgeladenen Redemanuskript sagte sie:
Der Auschwitzüberlebende israelische Historiker Yehuda Elkana, der auch ein guter Freund von mir war, hat im Jahr 1988 einen wichtigen Essay über die Shoah veröffentlicht. Er schrieb: "Es gibt zwei Arten von Menschen die aus der Asche von Auschwitz entstanden sind: eine Minderheit die sagt ‘das darf nie wieder passieren’ und eine verängstigte und heimgesuchte Mehrheit die sagt ‘das darf uns nie wieder passieren." Der entscheidende Unterschied auf den er hinweist ist Solidarität. Solidarität ist der Unterschied zwischen jüdischem Antirassismus und jüdischer Faschismus. [Fehler und Hervorhebung im Original, Anm. JFDA]
Nicht nur wird hier der dezidiert antisemitische Kern des Holocaust verschleiert. Das Insistieren darauf, dass ein Holocaust am jüdischen Volk sich nicht wiederholen dürfe, wird ferner auch zum Vorwurf des Faschismus gewandelt. Obwohl es hier nicht dezidiert ausgesprochen wird, ist damit vermutlich die Politik des jüdischen Staates Israel zumindest implizit gemeint, was man als Fall von Täter-Opfer-Umkehr beschreiben kann. Der Vorwurf des “Faschismus” ist seit 1967 ein verbreitetes Narrativ vornehmlich in der politischen Linken gegenüber Israel. Außerdem mutet die Formulierung, dass jüdische Menschen pauschal entweder die “richtige” oder die “falsche” weil “faschistische” Lehre aus Auschwitz gezogen haben, überaus fragwürdig an und erscheint im Kontext des Gedenkens an einen rechtsterroristischen und rassistischen Anschlag überaus deplatziert - zumal die Rede mit der Forderung schloss, sich gegen den “gemeinsamen Feind” Faschismus zu organisieren.
In einem nachträglichen Tweet [7] schreibt Frey, dass sie die Wortwahl “jüdischer Faschismus” bedauere und einsehe, dass er in einer Gedenkrede an die Opfer von Hanau "fehl am Platz" war. Es habe sich hier um eine “polemische Überspitzung” gehandelt, mit der die Autorin auf einen “besorgniserregenden Rechtsruck in jüdischen Gemeinden weltweit” hinweisen wollte. Der Bezug zu Auschwitz blieb dabei aber weiterhin unkommentiert.
Instrumentalisierung des Hanau-Gedenkens
Indem auf verschiedenen Hanau-Kundgebungen ein direkter Bezug zur Situation in Nahost hergestellt wurde, wurde u.a. eine implizite Gleichsetzung von rassistischem und antisemitischem Rechtsterrorismus mit der israelischen Politik hergestellt. Das Hanau-Attentat, das in einer bundesdeutschen rechtsterroristischen Kontinuität seit 1945 steht, hat aber nichts mit der israelischen Politik zu tun - und wenn man überhaupt so eine Beziehung herstellen möchte, dann sollte eher anders herum betont werden, dass Israel einen Schutzraum für Verfolgte von Antisemitismus bietet, unter anderem den jüdischen Überlebenden des Nationalsozialismus. Wer diesen Vergleich anstellt, muss also dafür kritisiert werden, nicht nur eine falsche Analogie herzuleiten, sondern auch eine implizite Gleichsetzung der israelischen Politik mit der des Nationalsozialismus vorzunehmen. Eine Gleichsetzung, die laut IHRA-Definition ein Kriterium für israelbezogenen Antisemitismus darstellt und als Fall von Täter-Opfer-Umkehr beschrieben werden kann.
Wir kritisieren die Instrumentalisierung des Hanau-Gedenkens für einseitige, relativierende und dämonisierende Kritik an der israelischen Politik, die in diesen Fällen in eine deutsch-rechtsradikale Tradition gestellt wird. Damit wollen wir in keiner Weise die Notwendigkeit des Gedenkens an rechten Terror, sei es in Hanau oder in Halle, schmälern. Unsere Solidarität gilt all denjenigen, die direkt betroffen sind und/oder gegen Rassismus kämpfen. Der antirassistische Kampf darf aber keinen Raum für antisemitische Ideologeme lassen.
Quellen:
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