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02. Oktober 2020 – Über Anselm Lenz und die Radikalisierung des „Demokratischen Widerstands“

„Wir schlagen jetzt vor, dass wir einige Fahnen verteilen und dann spontan Aufzüge angemeldet werden können […] zum Amtssitz der notorischen Kriminellen Frank-Walter Steinmeier, Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Und wenn diese Leute dort nicht anzutreffen sind, dann finden wir auch private Adressen…“, drohte Anselm Lenz, Mitinitiator der „Nicht ohne uns“-Bewegung um die „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (KDW), nachdem die Versammlung am 2. Oktober 2020, die er und seine Mitstreiter:innen als „Fest der Republik“ deklariert hatten, von der Polizei aufgelöst worden war.

Circa 200 Personen waren an diesem Nachmittag vor dem Reichstagsgebäude in Berlin zusammengekommen. Eigentlich sollte dies ein Familienfest und eine „verfassungsgebende Versammlung“ zur „Wiederherstellung der Demokratie“ werden, doch das Grünflächenamt hatte nach Angaben der Veranstalter:innen das Aufbauen einer Hüpfburg für die kleinsten „Demokrat:innen“ in letzter Minute untersagt. Was aber ist eine „verfassungsgebende Versammlung“ ohne eine Hüpfburg?

Vielleicht rührte daher die Wut in der Ansprache des Anselm Lenz: der Fakt, dass seine Bewegung nicht die allgemeine Anerkennung als ernstzunehmende Demokratiebewegung erhält, die er sich wünscht, und er stattdessen gegen die Hindernisse ankämpfen muss, die ihm die Demonstrations-Reglementierungen der „diktatorischen“ Bundesregierung zu Zeiten von Corona auferlegen. Vielleicht war es aber auch die Angst, nach dem langen „Sommer der Demokratie“, wie ihn die Widerständler:innen nennen, in die Bedeutungslosigkeit fernab der Welt der Corona-Revolution zurück zu sinken, die Lenz an diesem Tag befeuerte.

Heute seien sie noch nicht zum „bewaffneten Kampf“ bereit, verlautbarte Lenz weiter, was impliziert, dass sie es zu einem zukünftigen Zeitpunkt womöglich seien werden. Damit stellt Lenz sich in eine Reihe mit narzisstischen Selbstdarstellern wie Attila Hildmann und Rüdiger Hoffmann, die in der Corona-Pandemie eine Bühne gefunden haben, um ihre Gewalt- und Systemsturzphantasien – ernstgemeinte wie gespielte – öffentlich auszusprechen und sich in dem Jubel bewundernder Anhänger:innen als Retter der „Freiheit“ zu profilieren.

Denn für nichts anderes vermeinen Lenz und die KDW zu kämpfen. Immer wieder proklamieren sie ihren Protest als die größte Demokratiebewegung der europäischen Geschichte. Immer wieder erklären sie ihre Protestzeitung zur „auflagenstärksten Wochenzeitung der Republik“. Immer wieder zaubern sie phänomenale Zahlen aus der Schublade, um die scheinbare Rechtmäßigkeit ihres im März 2020 als „Hygienedemonstration“ begonnenen Protests gegen die Coronaschutzmaßnahmen der Bundesregierung zu legitimieren. Es mag dies ein Manöver der KDW und der anderen Corona-Gegner:innen sein, das man auch aus der obersten Regierungs-Etage der USA kennt, und bei dem man die „alternativen Fakten“ nur oft und laut genug wiederholt, um sie wahr zu machen. Dabei wird jede Gegenstimme als eingekaufte, staatlich manipulierte Propaganda einer gleichgeschalteten „Lügenpresse“ diffamiert und ein kritischer Diskurs von vornherein unmöglich gemacht.1

Die knapp 200 Menschen auf dem Platz der Republik am 2. Oktober sowie die rund zehntausend Menschen, die sich tags darauf in Konstanz versammelt haben, mögen Lenz und Co. mit ihrer persönlichen Wahrheit für sich gewonnen haben. Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine halbwegs reflektierte Zuhörer- und Leserschaft in den affektierten Reden und den selbstverliebten Texten der KDW den bedenklichen Größenwahn erkennt, der in latent angewidertem Kopfschütteln mündet und eine objektive Debatte über potentiell lautere Vorstellungen und Ziele der Bewegung gar nicht erst zulässt.

Es ist nicht auszuschließen, dass Anselm Lenz und die KDW von ihrer propagierten Wahrheit tatsächlich selbst überzeugt sind. Die theatralischen Auftritte Lenz‘ auf den Coronademonstrationen lassen jedoch auch die Deutung zu, dass der Dramaturg vor allem Freude am Spiel und an der Selbstinszenierung hat. Ungeachtet seiner Motive sind die möglichen Folgen seiner Inszenierungen indessen als gefährlich anzusehen, wie es der „Sturm auf den Reichstag“ und die Schlägereien vor der Russischen Botschaft am 29. August 2020 gezeigt haben.

Ja, ist es nunmehr weithin bekannt, dass sich die KDWler, Querdenker:innen und selbsternannten Demokratie-Retter:innen öffentlich von rechtsradikalen Personen und Gruppierungen wie den Reichsbürgern distanzieren und mittlerweile verstärkt zum fahnenlosen Protest aufrufen, um einen politisch unfragwürdigen Anschein zu geben (oder, wie im Fall von Lenz am 2. Oktober auf eine extra große Diversität der Fahnen achten). Trotzdem feiern die Verschwörungsmythen um QAnon und Bill Gates Hochkonjunktur auf ihren Veranstaltungen. Trotzdem sind NS- und Holocaust-relativierende Aussagen und Symbole auf ihren Demonstrationen die Regel und nicht die Ausnahme. Trotzdem teilen sich die Veranstalter:innen nach wie vor mit bekannten Rechtsextremen und Verschwörungsideolog:innen die Bühne, ohne ernsthaft und glaubwürdig dagegen anzugehen.

Die Mobilisierung zum Aufzug zu Wohnhäusern von Politiker:innen und die Benennung von privaten Adressen durch einen der Veranstalter:innen selbst, stellt nun eine neue Stufe in der Radikalisierung der Coronaproteste dar. Die indirekte Androhung von Gewalt zum Durchsetzen ihrer Ziele sollte ein deutliches Zeichen und ein Warnsignal sein, das hoffentlich auch die stoischsten Verfechter:innen der vermeintlichen Unschuld und Friedfertigkeit dieser Bewegung nicht überhören.

1Als Antwort auf bestehende und zu erwartende Anschuldigungen in diesem Zusammenhang: Nein, das JFDA wird nicht von der Bundeskanzlerin bezahlt und auch nicht von Mossad. Wäre dies der Fall, könnten sich die Mitarbeitenden, die auf den Coronademos regelmäßig von den so um Frieden und Liebe bemühten Demonstrationsteilnehmer:innen angegriffen und bepöbelt werden, weil sie Mundschutz und Kameras tragen, vielleicht gut ausgebildetes Sicherheitspersonal und schlagresistentes Equipment leisten.



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