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Kommentar zur Einstellung des Verfahrens gegen den Rechtsextremen Martin Kiese

“Judenpresse”, “Feuer und Benzin für euch” und “Judenpack” züngelt der Rechtsextreme

Martin Kiese gegenüber Journalist:innen in einem Video, das ihn auf einer “Gedenkveranstaltung” von Neonazis zum Volkstrauertag am 15. November 2020 gegenüber Journalist:innen in Braunschweig dokumentierte (https://twitter.com/M000X/status/1356658161957109760?s=20). Auf einer anderen neonazistischen Veranstaltung in Braunschweig am 19. Dezember 2020 wurde Kiese dabei gefilmt, wie er, eine Reichsflagge schwingend, Gegendemonstrant:innen antisemitisch, sexistisch und homofeindlich beleidigte. Dabei hetzte er immer wieder auch gegen den Staat Israel, der hier als Synonym für das gesamte Judentum verstanden werden kann: “Ihr miesen Leute aus Israel” pöbelte er. Sein Opa hätte sie schon bekämpft, ist an anderer Stelle zu vernehmen, oder: Er, Kiese, würde keine Kinder schlagen, sondern “nur Leute, die aus Israel kommen” (https://twitter.com/M000X/status/1340737894403760132?s=20).


Es ist nicht schwer, anhand dieser wenigen Beispiele den ungefilterten Hass Kieses gegenüber Jüdinnen und Juden zu erkennen. Es bedarf keines Studiums der Antisemitismusforschung, um zu sehen, dass in diesen Worten “lehrbuchartiger” Antisemitismus steckt und ein Agressionspotential, das kaum zu ertragen ist. Auch lassen sich bei Martin Kiese, der stellvertretender Kreisvorsitzender der extrem rechten Partei “Die Rechte” ist und ehemaliger Ortsvorsitzender der verbotenen rechtsextremen “Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei” (FAP) war, recht deutliche Rückschlüsse auf eine politische und ideologische Ausrichtung ziehen, die eine Bewertung seiner Äußerungen als explizit antisemitisch nur allzu nahe legen.


Dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig, die eine Strafverfolgung gegen Kiese wegen des Verdachts der Volksverhetzung auf Grundlage der antisemitischen Beleidigungen und Bedrohung vom 15.11.20 geführte hatte, all dies nicht erkannt zu haben glaubt, wirft deshalb Unverständnis und Fragen auf. Auch das Videomaterial der Kundgebung am 19.12.20 schien der Staatsanwaltschaft nicht ausreichend gewesen zu sein, um Kieses Aussprüche vor dem Hintergrund seiner offenkundig rechtsextremen Gesinnung entsprechend einzuordnen. Vor wenigen Tagen gab der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig bekannt, dass das Verfahren gegen Martin Kiese eingestellt wurde. In der Begründung heißt es unter anderem, dass die Verwendung der Begriffe “Jude” und “Judenpresse” wie im obigen Zusammenhang genannt “schon objektiv” nicht als Beleidigungen anzusehen seien, “ebenso wenig wie ‘Christ’ und ‘Moslem’”.

Gemessen an den Ergebnissen und Erkenntnissen jahrzehntelanger wissenschaftlicher Auseinandersetzung und politischer wie gesellschaftlicher Debatten um das Thema Antisemitismus, lässt sich bei der Bezeichnung “Jude” jedoch durchaus auch “objektiv” eine antisemitische Beleidung erkennen, insbesondere in einer so eindeutigen Situation von einer derart einschlägigen Person verwendet, wie im Fall Kieses auf der neonazistischen Veranstaltung in Braunschweig.


Das antisemitische Narrativ “Jude” ist bis heute weit verbreitet und bezieht sich auf die Stigmatisierung des “Jüdischen” als “Böses” schlechthin. In diesem Narrativ wird “Jude” auch als Diffamierung nichtjüdischer Menschen verwendet, sei es auf dem Schulhof oder im Fußballstadion, und symbolisiert damit wie kaum ein anderes Wort die anhaltende Wirkkraft einer jahrhundertelangen antijüdischen Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte.


Auch der Begriff “Judenpack” ist ein klassischer antisemitischer Terminus, mit dem im Nationalsozialismus die systematische Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden betrieben wurde. Seither findet er immer wieder in rechtsextremen und neonazistischen Kundgebungen und Pamphleten Eingang und wird an Hauswände und Synagogentüren geschmiert.


Der von Kiese gebrauchte Zusatz “Feuer und Benzin für euch” verstärkt die Lesart der Bezeichnungen “Jude” und “Judenpack” als bewusst antisemitisch verwendete Begriffe noch. Schließlich referieren diese Begriffe auf abstoßenste Weise auf die antijüdischen Pogrome des Mittelalters und der Zeit der Nationalsozialismus sowie auf die Krematorien der nationalsozialistischen Vernichtungslager, in denen Jüdinnen und Juden sowie andere verfolgte Minderheiten und Einzelpersonen millionenfach verbrannt wurden.


Ähnlich eindeutige Bezüge lassen sich für die Bezeichnung “Judenpresse” aufzeigen. Mit dieser Diffamierung diskreditierten die Nazis freie, demokratische Presseorgane und Journalist:innen, machten diese mundtot und schalteten sie zugunsten einer staatlich gelenkten Propaganda-Presse aus. Das antisemitische Narrativ dahinter bezieht sich auf den verschwörungsideologischen Mythos, dass Medien von einer vermeintlichen jüdischen Elite mit Weltherrschaftsplänen manipuliert und gesteuert würden. Dieser Begriff wird bis heute verwendet, und zwar immer dann, wenn aus ideologischen und/oder politischen Motiven heraus Medien und Medienschaffenden eine interessengeleitete bzw. fremdgelenkte Berichterstattung unterstellt werden soll. Diese Motive lassen sich auch nach 1945 immer noch hauptsächlich in rechten und rechtsextremen Kreisen beobachten.


Die Diffamierung “Judenpresse” hat seit den PEGIDA-Demonstrationen ab 2014 eine neue Salonfähigkeit erhalten, so dass sich auch Menschen mit einem vermeintlich bürgerlich-demokratischen und nicht-antisemitischen politischen Selbstverständnis auf den aktuellen Coronademonstrationen nicht scheuen, diesen Begriff zu gebrauchen.

Ob sie sich dieses Narrativs dabei in einer direkten oder “nur” ihrer Struktur nach antisemitischen Weise bedienen, macht für die Betroffenen keinen Unterschied. Für Jüdinnen und Juden bedeutet auch dieser Terminus, dass ein antisemitisches Vorurteil am Leben gehalten wird. Sowohl für sie als auch für Pressevertreter:innen beinhaltet er ganz konkrete Gefahrenpotentiale.


Es fragt sich nun, ob es Ignoranz gegenüber den Betroffenen ist - den jüdischen, wie den medienschaffenden - mit der die Staatsanwaltschaft ihre Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens gegen Martin Kiese getroffen hat, ob es mit fahrlässiger Unwissenheit der Staatsanwaltschaft über die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus zu tun hat oder ob es schlichtweg an der Gleichgültigkeit derselben gegenüber der möglichen Tragweite eines solches Vorfalles liegt. Das Zeichen, das die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit dieser Entscheidung setzt, ist jedenfalls verheerend. Sie lässt antisemitische Diskriminierungen und konkrete Bedrohungen für Menschen als akzeptabel und juristisch vertretbar erscheinen. Auch vermittelt sie Rechtsextremen wie Kiese den Eindruck, dass ihr unverblümter Hass gegen Jüdinnen und Juden und das darin enthaltene Gewaltpotential keine strafrechtlichen Konsequenzen habe.


Das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus kritisiert die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig und damit die Bagatellisierung von Antisemitismus auf das Schärfste. Dies ist ein enttäuschendes und entmutigendes Beispiel für eine fragliche deutsche Strafverfolgung und -vollstreckung, in der seit dem Ende des Nationalsozialismus immer wieder eklatante Schwächen und Fehler im Umgang mit antisemitischen und rassistischen Straftaten zu beobachten gewesen sind. Das Erkennen und adäquate Ahnden von antisemitischen und rassistischen Hassverbrechen sollte Grundbestandteil der juristischen Ausbildung werden und konsequent geschult werden. Dies sollte in einer Zeit, in der in Deutschland antisemitische und rassistische Delikte und Straftaten zunehmen und Opfer und Überlebende von Anschlägen wie in Halle und Hanau mit aller Eindringlichkeit dazu mahnen, man möge es doch endlich besser machen, klarer und wichtiger sein denn je.

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