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In Erinnerung an die Opfer des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen (22. bis 24. August 1992)

Aktualisiert: 7. Okt. 2022



Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen ereigneten sich vom 22. bis zum 24. August 1992 die schlimmsten rechtsextremen und rassistischen Ausschreitungen im Nachkriegsdeutschland. So wurde die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) zunächst mit Steinen beworfen, sodass die dort Schutzsuchenden evakuiert werden mussten. Am 24. August zündeten schließlich rechtsextreme Jugendliche unter dem Beifall Tausender Schaulustiger ein Wohnhaus mit Molotowcocktails an und schlossen dadurch die darin untergebrachten rund 150 vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen ein. Rostock-Lichtenhagen ist nicht nur ein Sinnbild für die aggressive Entladung der in der deutschen Gesellschaft heimischen rechtsextremen und rassistischen Tendenzen, sondern führte auch das großflächige Versagen von Politik und Staatsmacht vor Augen, die nicht in der Lage waren, die Gewalttaten in den Griff zu bekommen und die Bewohner:innen des sogenannten “Sonnenblumenhauses” zu schützen.


Wenn die Politiker nicht imstande sind, in Lichtenhagen für Ordnung zu sorgen, muß sich der gemeine Bürger eben selber zur Wehr setzen” (zitiert nach Prenzel 2015:79), propagierte am 24. August eine Rostocker Lokalzeitung und brachte den besagten Zusammenhang damit pointiert zum Ausdruck.


Am heutigen Tag, den 22. August 2022, jährt sich das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen zum 30. Mal. Zur Erinnerung an die Opfer der Ausschreitungen dient der folgende Text.


Kontextualisierung


Den Nährboden für die rassistische Stimmung, die das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen ermöglichte, bot vor allem die bundesweite Debatte über die Verschärfung des Asylrechts in Deutschland, die vor den Ausschreitungen in Rostock bereits mehrere Jahre lang geführt wurde (vgl. Heinrich 2018: 298). Das individuelle Recht auf Asyl wurde in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland als Reaktion auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus, durch den zahlreiche Menschen Terror und Verfolgung erleiden mussten, festgeschrieben. Lange Zeit wurde dies nur von einigen Tausend Menschen im Jahr wahrgenommen, jedoch kam es vor allem in den Jahren 1991 und 1992 zu einem eklatanten Anstieg der Asylbewerber:innen, was sowohl auf den Zerfall des Ostblocks, als auch auf den Bürgerkrieg in Jugoslawien zurückzuführen war (vgl. Prenzel 2015: 80).


Unter den Asylbewerber:innen befanden sich zahlreiche Geflüchtete aus Rumänien (vgl. Lüthke/Müller 2019: 97). In den folgenden Jahren wurde die öffentliche Debatte um das Asylrecht zunehmend aufgeheizt und negativ besetzt. Schließlich war die Debatte primär durch eine panikartige Stimmung ausgezeichnet, die auch in der Mitte der Gesellschaft deutlich spürbar war. Umfragen aus dem Jahr 1992 ergaben, dass sowohl Ost- als auch Westdeutsche das sogenannte „Ausländerproblem” als das wichtigste politische Thema ansahen. Sie befürchteten, dass das Asylrecht großflächig missbraucht werde (vgl. Prenzel 2015:80). Die CDU/CSU beteiligte sich an der Debatte, indem sie auf einen angeblichen „Asylbetrug” weiter aufmerksam machten und den vermeintlichen Missbrauch des Asylrechts durch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge” betonte. Somit drängten CDU und CSU die oppositionelle SPD, einer Änderung des Grundgesetzes zur Einschränkung des Rechts auf politisches Asyl zuzustimmen (vgl. Heinrich 2018: 298).


Die politisch aufgeheizte Stimmung in Deutschland brachte schließlich einen massiven Anstieg rechter Angriffe auf migrantisierte Personen und Asylbewerber:innen hervor, die unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung begannen und den Ausschreitungen in Rostock voran gingen. Gerade in den neuen Bundesländern paarte sich eine soziale Abstiegsangst mit einem völkischen Nationalismus, was sich in der Gewalt gegen besonders marginalisierte Personengruppen niederschlug, die als Projektionsfläche dienten. So wurden Anfang der 90er Jahre zahlreiche Flüchtlingsunterkünfte sowie ihre Bewohner:innen durch Neonazi-Skinheads angegriffen und mehrere Menschen teils schwer verletzt. Bei einigen der Brandanschläge kamen sogar Menschen zu Tode, wie bei den Angriffen auf die Wohnhäuser türkischer Familien in Mölln und Solingen, bei denen insgesamt acht Menschen getötet wurden.


Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen ist demnach in einen unmittelbaren Zusammenhang zur Asyldebatte sowie den vorangegangenen Gewalttaten zu stellen, die die politische Stimmung Deutschlands zu dieser Zeit maßgeblich prägten (vgl. Prenzel 2015: 79-82).


Chronologie der Ereignisse


Im Jahr 1990 wurde die zentrale landesweite Aufnahmestelle für Asylbewerber:innen (ZASt) in ein Hochhaus in der Mecklenburger Allee im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen verlegt. Dass sich neben der Asylanlaufstelle seit den 1980er Jahren ein Wohnhaus für die in der DDR arbeitenden Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam befand und es zwischen ihnen und den umliegenden Anwohner:innen nie Probleme gegeben habe, wurde als ein Argument für den neuen Standort der ZASt angeführt. Als es in den Jahren 1991 und 1992 zu einem massiven Anstieg der Asylbewerber:innen kam, war die auf 200 Personen ausgelegte Anlaufstelle im Sommer 1991 mit bis zu 140 Bewerber:innen an einem Tag konfrontiert. Aus Platzmangel mussten hunderte Familien auf die Grünflächen vor dem Haus ausweichen, wo sie ohne sanitäre Anlagen, Möglichkeiten zur Hygiene und anderweitige Versorgung wochenlang verharrten. Aus Augenzeug:innenberichten ging die unhaltbare Situation deutlich hervor:


›Die Leute mußten für 2–3 Tage, bis zu einer Woche draußen bleiben‹, schilderte eine Frau aus Rumänien. Ein anderer Flüchtling ergänzte: ›Alles war voll [...] Es war katastrophal. So viele Leute. Was ich da gesehen habe, war erschreckend. Und ich habe gefragt, ›warum seid ihr alle draußen?‹ Mir wurde gesagt, daß sie kein Asyl mehr bekommen. Da waren Leute mit kranken Kindern. Wir wurden erniedrigt, wir hatten Hunger. Und wir waren schmutzig. Wir wollten etwas Wärme und einen Platz, wo wir mit unseren Kindern bleiben konnten.‹” (zit. nach Prenzel 2015: 81).


Die unmenschlichen Zustände waren jedoch der Politik schnell bekannt, da zahlreiche Beschwerdebriefe von den umliegenden Anwohner:innen der ZASt an den Senat Rostocks geschickt wurden. In einigen wurde die dezidierte Forderung nach mobilen Toiletten sowie der Unterbringung der Menschen in Unterkünften deutlich. Wie die meisten anderen wurde auch ein Schreiben des Gesundheitsamtes an den damaligen Bürgermeister Rostocks ignoriert.


›Je besser wir die einen unterbringen, um so größer ist der Zuspruch neuer Asylbewerber am nächsten Tag‹” (zit. nach Prenzel 2015: 81), äußerte sich der Innensenator der Stadt, Peter Magdanz (SPD), in der Lokalpresse zu der Situation und traf damit wohl passend den allgemeinen Umgang der Politik mit den zahlreichen Asylbewerber:innen.


Viele der aus Jugoslawien und Rumänien stammenden Asylbewerber:innen, die vor der ZASt ausharren mussten, gehörten den Rom:nja an. Diese waren unter anderem geflohen, da sie in ihren Herkunftsländern massiver Gewalt ausgesetzt waren. Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus war in Europa der größte Anstieg an Gewalt und Pogromen gegen Sinti:zze und Rom:nja seit dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen. Laut dem European Rights Center (ERRC) fanden in den 1990er Jahren allein 30 Pogrome gegen Rom:nja in Rumänien statt. Bei den Pogromen wurden Rom:nja unter anderem mit Fackeln, Knüppeln und Mistgabeln angegriffen und vertrieben, sodass sie anderswo (teils in Deutschland) Schutz suchten (vgl. Espinoza 2014: 177).


Die Reaktionen in den Tagen vor den Ausschreitungen waren vor allem durch antiziganistische Vorurteile geprägt. In der Lokalpresse wurden Rom:nja kollektiv als Problem dargestellt und mit den gängigen antiziganistischen Vorurteilen des „Schmarotzertums” und der Kriminalität in Verbindung gebracht (vgl. Heinrich 2018:294f). Dies zeigte sich vor allem auch in der Asyldebatte, die das antiziganistische Vorurteil der Rom:nja als arbeitsscheu und das Sozialsystem ausnutzend, bediente. Hierin lässt sich eine klassische Schuldumkehr erkennen, indem die Schuld nicht bei den sozial unzumutbaren Verhältnissen, sondern bei den Opfern gesucht wurde (vgl. Stender 2016:7). Die Perspektive der Betroffenen, die unter den fatalen Umständen leben mussten, wurde aus der Debatte systematisch ausgeklammert.


In der Folge kam es zu Bedrohungen der Rom:nja seitens deutscher Jugendlicher. Im August 1992 gossen die Lokalzeitungen im wahrsten Sinne des Wortes noch mehr Öl ins Feuer, indem sie zahlreichen Gewaltaufrufen ungefiltert eine Plattform boten. In der Nacht vom Samstag zum Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf. Das wird eine heiße Nacht” (zit. nach Prenzel 2015: 82) hieß es dort beispielsweise in einer Kommentarspalte.


Dem Umstand geschuldet, dass die Zuständigkeiten für die ZASt zwischen Land und Kommune geteilt waren, machte es möglich, die Verantwortlichkeit für die Situation vor Ort immer wieder hin und herzuschieben, wodurch sich eine Lösung der Lage immer weiter verzögerte. Letztendlich wurde der Beschluss gefasst, im September 1992 den Standort der Zentralen Aufnahmestelle aus Lichtenhagen zu verlegen, wozu es jedoch nicht mehr kam.


Am Samstagabend des 22. August 1992 versammelten sich rund 2000 Menschen vor dem Sonnenblumenhaus, in dem sich sowohl die ZASt, als auch die Wohnungen der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen befanden. Bereits an diesem ersten Abend der Ausschreitungen wurden von einigen der Anwesenden Steine auf das Haus geworfen und rassistische Parolen gerufen. Da die Polizei vollkommen unvorbereitet auftrat, dauerte es mehrere Stunden, bis sie die Situation mit Wasserwerfern in den Griff bekommen konnten. Die mediale Aufmerksamkeit der Ausschreitungen zog zunehmend auch Rechtsextreme aus dem Umland an. Am nächsten Tag, dem 23. August, versammelten sich erneut an die 3000 Schaulustige und schützten die Gewaltbereiten, die Parolen wie „Ausländer raus” oder „Deutschland den Deutschen” schrien. Es gab Imbissstände mit Verpflegung und es wurde Beifall geklatscht, als Hunderte ihre Aggression gegen die Bewohner:innen der ZASt, des vietnamesischen Wohnheims und die Polizei richteten. An diesem Sonntag wurde erstmals das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen gestürmt. Die Angreifer:innen konnten bis in den sechsten Stock vordringen, bevor es den Einsatzkräften der Polizei gelang, sie zu stoppen. Den rund 300 Einsatzkräften der Polizei war es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, die Situation angemessen unter Kontrolle zu bringen (vgl. Prenzel 2015: 83).

Erst in der Nacht wurde die Lage vom Innenministerium ernst genommen und ein Großaufgebot an Polizist:innen nach Rostock-Lichtenhagen geschickt, um die Lage in den Griff zu bekommen. Am Montagnachmittag des 24. Augusts entschied sich das Land, die ZASt zu räumen und die Asylsuchenden auf andere Heime in der umliegenden Umgebung zu verteilen, um so den Angriffen ein Ende setzen zu können. Die Hoffnung, dass durch das Ende des Wochenendes weniger Menschen vor Ort sein würden, wurde enttäuscht.


Denn schon am Montag versammelten sich erneut zahlreiche Menschen vor dem Wohnblock. Und die Polizei? Die zog mit versammelter Belegschaft ab, wobei die Gründe hierfür bis heute nicht geklärt worden sind. Es könnten Kommunikationsfehler oder ein Missverständnis gewesen sein, hieß es. Die Entscheidung erwies sich als fataler Fehler, der beinahe zahlreiche Menschenleben gekostet hätte, denn in der Folge wurde das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen mit Molotowcocktails angezündet. Rechtsextreme drangen in das Gebäude ein und sorgten dafür, dass sich der Brand in den unteren Etagen ungehindert ausbreitete und versperrten zudem der Feuerwehr die Zufahrt zum Gebäude. Dadurch waren die im Haus lebenden Vietnames:innen, der Ausländerbeauftragte Rostocks, Wolfgang Richter, einige angereiste Helfer:innen sowie ein Kamerateam des ZDF im Haus eingeschlossen und ohne Hilfe auf sich selbst gestellt. Ihnen gelang letztlich nur durch das Aufbrechen einer Dachluke, aus dem Haus zu entkommen (vgl. Heinrich 2018: 296f). Nach den Übergriffen wurden die Vietnames:innen mit Bussen aus dem Stadtteil gebracht. Unter großem Jubel der Deutschen bestätigte sich damit der Wunsch der Rechtsextremen und Lichtenhagen war temporär „ausländerfrei” (vgl. Prenzel 2015: 83).


Dies ist eine unvollständige Darstellung der Ereignisse. Obwohl niemand zu Tode kam, nahmen die „Krawallnächte von Lichtenhagen” eine besondere Bedeutung im darauffolgenden Diskurs über Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland ein. Zwar war Rostock-Lichtenhagen nicht der erste rechtsextreme Brandanschlag in den 1990er Jahren in Deutschland, jedoch sind die Vorfälle in ihrer medialen Aufmerksamkeit, dem Ablauf sowie dem Agieren der Beteiligten als außergewöhnlich anzuerkennen. Die Wirkung des Pogroms auf nachfolgende rechtsextreme Ausschreitungen darf nicht unterschätzt werden, da das Geschehen teils live übertragen wurde und so tagelang potentielle Täter:innen zur Nachahmung und zur Anreise nach Rostock motivierte. Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen sind bis heute prägend für die Sozialisation der rechtsextremen Szene (vgl. Heinrich 2018:300).

Zu den Opfern des Pogroms gehören die über 100 Menschen, die vollkommen auf sich alleine gestellt waren und nur durch eigene Kraft ihr Leben retten konnten. Doch auch die zwangsevakuierten Asylwerber:innen, als auch die über 200 Polizist:innen, die durch die vier Tage andauernden Ausschreitungen verletzt wurden, sind zu den Opfern dazuzuzählen (vgl. Heinrich 2018: 297).


In der Retrospektive ist vor allem das Versagen der politischen Verantwortlichen sowie der Sicherheitskräfte während der Ausschreitungen ersichtlich. So verhielten sich die politischen Verantwortlichen zurückweisend und kamen dem Ernst der Lage nicht nach. Der damalige Bundesinnenminister selbst sprach am Montag, dem 24. August nicht etwa vom dringend notwendigen Schutz der Angegriffenen, sondern davon, dass ein Missbrauch des Asylrechts verhindert werden müsse (vgl. Heinrich 2018: 301).


Es bleiben nach wie vor eine Reihe an Fragen offen: so ist etwa die Rolle der Anwohner:innen und der umliegenden städtischen Bevölkerung an den Ausschreitungen weitestgehend ungeklärt. In Stellungnahmen zu den Ereignissen zeichnete sich ein widersprüchliches Bild zwischen Scham und Rechtfertigung ab. Die Rolle der Politik und die Verschiebung der Verantwortung bleiben bis heute unklar. Ebenfalls ungeklärt ist der Abzug des Polizeischutzes vom Sonnenblumenhaus am 24. August, zu einem Zeitpunkt, an dem dieser offensichtlich bitter nötig gewesen wäre. Beobachter:innen und Betroffene stellten daher die Frage, ob die Eskalation der Gewalt möglicherweise sogar bewusst in Kauf genommen wurde (vgl. Heinrich 2018: 299f). Wolfram Stender sprach im Zuge dessen von einer „Wiederkehr der Politik der Abschreckung und Vertreibung, die an die alte Tradition der „Bekämpfung des Zigeunerwesens” anknüpfte” (Stender 2016:23). Der entscheidende Unterschied lag ihm zufolge jedoch darin, dass sie sich nicht mehr gegen deutsche Sinti:zze und Rom:nja, sondern gegen immigrierende Rom:nja aus vor allem Osteuropa richtete. In den Jahren von 1989 bis 1993 habe sich somit ein „Funktionswandel des Zigeunerressentiments” (zit. nach Stender 2016: 23) gezeigt, das der Abwehr migrantisierter Personen diente. Das ressentimentbehaftete Bild des Rom:nja als „Wirtschaftsflüchtling” oder „Scheinasylant” sei dazu instrumentalisiert worden, um eine repressive Flüchtlingspolitik durch die Abschaffung des Asylrechts durchsetzen zu können. Die Aktualisierung des projektiven Bildes vom „asozialen Fremden” diente der politischen Funktion, Migration als Import von Problemen und somit Abschiebungen als Problemlösungen darstellen zu können (vgl. ebd.).


Strafverfolgungen


Durch das unkoordinierte Agieren der Polizei konnten nur wenige der Straftäter:innen festgenommen werden. Auch wurden viele der Festgenommenen wieder freigelassen, da die Beweiskraft nicht ausreichte, um sie einer konkreten Straftat zuzuordnen (vgl. Lüthke/Müller 2019:98). Insgesamt führten 43 der eingeleiteten Ermittlungsverfahren zu einer Anklage, wovon 25 Jugendliche sowie elf Erwachsene abgeurteilt wurden. Die Verurteilungen erfolgten wegen Landfriedensbruch bzw. schwerem Landfriedensbruch, obwohl es bei einigen Verfahren eine Korrelation mit versuchter oder vollendeter gefährlicher Körperverletzung sowie schwerer Brandstiftung gab. Das Gericht sah jedoch den Vorwurf des versuchten Mordes oder Totschlags nicht gegeben, da der Tötungsvorsatz als nicht bewiesen galt. Sieben der Jugendlichen wurden schließlich zu Jugendstrafen zwischen neun Monaten und drei Jahren verurteilt. Sechs der verurteilten Jugendlichen konnten der rechten Szene zugeordnen werden. Die Straftäter:innen reisten teils von außerhalb an, um gezielt an dem Pogrom teilzunehmen. Die elf angeklagten Erwachsenen wurden allesamt zu Freiheitsstrafen verurteilt. Von ihnen waren zwei als Neonazis einzustufen, wobei die restlichen als sogenannte Mitläufer:innen zu bezeichnen sind, da bei ihnen keine dezidiert rechtsextreme Gesinnung festgestellt werden konnte (vgl. Lüthke/Müller 2019: 100f).


Umgang mit der Erinnerung vor Ort


Ende der 1990er Jahre wollte die rechtsextreme NPD ihre Wahlkampfabschlussveranstaltung vor dem Sonnenblumenhaus abhalten. In Reaktion darauf reisten bis zu 10.000 Gegendemonstrant:innen an und ein anschließendes Friedensfest wurde organisiert. Die Gegendemonstration war der Ausgangspunkt für die Bürger:inneninitiative „Bunt statt Braun”, die sich bis heute mit den Geschehnissen in Lichtenhagen auseinandersetzt. Ein spätes, jedoch wesentliches Zeichen zur Aufarbeitung und Erinnerung setzte schließlich der Oberbürgermeister Arno Pöker. Am 10. Jahrestag des Pogroms entschuldigte er sich als Erster im Namen der Stadt bei den Opfern. Zum 20. Jahrestag wurde sich dann um den ersten Versuch eines Gedenkortes bemüht. Die Stadt pflanzte zusammen mit der Bürger:inneninitiative eine Friedenseiche als Symbol der Erinnerung. Kurz danach wurde diese hingegen abgesägt. Die „Aktion antifaschistischer Fuchsschwanz”, welche sich zu dieser Tat bekannte, sah in ihr ein Symbol des deutschen Nationalstolzes (vgl. Heinrich 2018: 303).


Erst 25 Jahre nach den Übergriffen wurden an insgesamt fünf Orten in der Stadt Gedenkobjekte eingeweiht, die sowohl als Mahnmal als auch Erinnerungsorte dienen sollten (vgl. Heinrich 2018:294). Bezeichnend ist, dass sich nach den Übergriffen zuerst die vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen bemühten, auf die Anwohner:innen Lichtenhagens zuzugehen und dafür den Verein “Diên Hông – gemeinsam unter einem Dach“ gründeten, der den deutsch-vietnamesischen Austausch fördern und eine Begegnungsstätte darstellen sollte.


In Gedenken an die Opfer


Heute, 30 Jahre nach dem Pogrom bleiben Trauer und Frustration sowie viele offene Fragen. Die über Hundert in dem brennenden Gebäude eingeschlossen Menschen, werden diesen Tag niemals vergessen. Wir gedenken den Opfern des Anschlags und weisen darauf hin, dass auch heute, 30 Jahre nach den Ereignissen, Rassismus immer noch ein gesamtgesellschaftliches Problem ist und entschieden bekämpft werden muss. Zudem ist die antiziganistische Motivation hinter den Ereignissen auch noch heute weitestgehend unbekannt und zeigt einmal mehr, wie wenig Antiziganismus als Diskriminierungsform in Deutschland wahrgenommen wird. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Genese, Struktur und Funktion des Antiziganismus führte das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen jedenfalls nicht (vgl. Stender 2016: 11).



Literatur

Espinoza, Luis Liendo (2014): Bürgerkrieg gegen Roma in Europa 1990-2014. Eine unvollständige Chronik. In: sans phrase 4/2014.


Heinrich, Gudrun (2018): Rostock Lichtenhagen 1992-2017: Aufarbeitung und Erinnerung als Prozess der lokalen politischen Kultur - Ein Essay. In: Koschkar, Martin/Ruvituso, Clara (Hrsg.): Politische Führung im Spiegel regionaler politischer Kultur. Wiesbaden: Springer VS.


Lüthke, Albrecht/Müller, Ingo (2019): Ausländerfeindliche Gewalt - das Beispiel Rostock-Lichtenhagen. In Lüthke, Albrecht/Müller, Ingo (Hrsg.): Strafjustiz für Nicht-Juristen. Ein Ratgeber für Schöffen, Pädagogen, Sozialarbeiter und andere Interessierte. Wiesbaden: Springer VS. Vierte aktualisierte Auflage.


Prenzel, Thomas (2015): “Das sind doch keine Menschen”. Die Debatte um das Grundrecht auf Asyl und die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen. In: Indes, 2015, Vol. 4 (1), p. 79-85.


Stender, Wolfram (2016): Die Wandlungen des ‘Antiziganismus’ nach 1945. Zur Einleitung. In: Stender, Wolfram (Hrsg.): Konstellationen des Antiziganismus: Theoretische Grundlagen, empirische Forschung und Vorschläge für die Praxis. Wiesbaden: Springer VS.


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