Magdeburg, 21.12.2020. Das Urteil im Halle-Prozess ist um 11:09 verkündet worden. Der Täter wird sein Leben nicht mehr in Freiheit verbringen: Nach dem Absitzen einer lebenslangen Haftstrafe wird er in Sicherheitsverwahrung untergebracht. Eine besondere Schwere der Schuld wurde durch das Oberlandesgericht Naumburg unter der vorsitzenden Richterin Ursula Mertens bestätigt.
Damit endet ein fünfmonatiger Prozess zu dem antisemitischen, rassistischen und misogynen Attentat vom 9. Oktober 2019, bei dem der Attentäter am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zwei Menschen ermordete und fast den verheerendsten antisemitischen Massenmord in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs begangen hätte.
Das Urteil ist kein Schlussstrich. Auch wenn es eigentlich eine banale Erkenntnis sein sollte, dass Antisemitismus, Rassismus und Misogynie, deren Menschenverachtung der Attentäter folgte, nicht aus der Welt verschwunden sind, muss das betont werden. Dass der Kampf weitergehen muss. Dass die Tat nicht isoliert stand, sondern sich einreihte – in die Geschichte von Rechtsterrorismus, Antisemitismus, Rassismus, Misogynie. Und in die Geschichte politischer Normalisierungen rechtsextremer Taten sowie die Benennung der ihnen zugrundeliegenden Ideologien.
Es gibt keine rechtsextremen Einzeltäter:innen
Der Prozess hat eines wiederholt illustriert: Immer wieder tun sich deutsche Gerichte und Ermittlungsbehörden schwer, die Ideologie von Tätern und Täterinnen zu erkennen und in gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen. Das Bild des verwirrten Einzeltäters: Es dominierte den Prozess bis zum Schluss, auch die mediale Berichterstattung griff es immer wieder auf (und nannte den Täter immer wieder entgegen der wiederholt geäußerten Wünsche der Nebenkläger:innen beim vollen Namen). Im Prozess wurde zwar trotz einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung des Täters darauf hingewiesen, dass er voll schuldfähig sei. Immer wieder zeigte sich jedoch, dass das Gericht den Täter nicht als Teil eines ideologischen internationalen Netzwerkes erkannte, in dem die Attentate von Christchurch, Utøya und Pittsburgh als Vorbilder gelten. Sondern als sozial isolierten Sonderling, dem es seit seiner Kindheit nur an Liebe und Fürsorge gemangelt habe.
Aber bei Morden, denen eine Ideologie zugrunde liegt, kann es keine isolierten Einzeltäter geben. Denn Ideologien sind gesellschaftlich vermittelt. Der Täter tötete schließlich nicht wahllos, sondern hatte ein geschlossenes antisemitisches Weltbild, in dem manche Menschen leben dürfen und andere nicht. Er hat sich vernetzt, ausgetauscht, handelte aus vollster Überzeugung, wollte durch seine Tat zur Nachahmung animieren.
Hätte es nicht eine Reihe von über 40 Nebenkläger:innen sowie mehreren zivilgesellschaftlichen Initiativen gegeben, die den Prozess kontinuierlich, solidarisch und kritisch begleitet, kommentiert, ausgewertet, analysiert und dokumentiert haben, wäre er möglicherweise kaum gesellschaftlich kontextualisiert worden. Immer wieder ist es der Nebenklage und der Zivilgesellschaft hier gelungen, dem Täter in seinem Antisemitismus, seinem Rassismus, seiner Frauenverachtung, seinem Menschenhass zu widersprechen und ihn zu konfrontieren. Die Perspektiven der Opfer ernst zu nehmen, sie zu betreuen, zu begleiten und nicht zuletzt auch finanziell zu unterstützen – was der Staat nur unzureichend leistete. Und die Öffentlichkeit auf zentrale Versäumnisse im Prozess aufmerksam zu machen.
Betroffenenperspektiven müssen ausreichend ernst genommen werden
Worin diese bestanden, wurde am 21.12. beispielhaft auf der öffentlichen Pressekonferenz einiger Nebenklagevertreter:innen und Nebenkläger:innen vor dem Landgericht Magdeburg um 14:00 vorgetragen. RA Kristin Pietrzyk, Nebenklagevertreterin, nannte das Urteil zu Beginn in seiner Begründung „mutlos, harmlos“ und „extrem entpolitisierend“. Obwohl, so wollte sie eingangs wenigstens positiv erwähnen, der Staatsschutzsenat Frauenfeindlichkeit als Tatmotiv rechter Täter anerkannte, den Betroffenen der Tat Raum gegeben hat zu sprechen, wurde die Chance verpasst, einen „gesellschaftlichen Kontext“ zur Tat zu schaffen: „All das, was die Chance gewesen wäre, Kontinuitäten von Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft aufzuzeigen und sie in Beziehung zu dieser Tat zu setzen, hat das OLG Naumburg heute in den Wind geschlagen“.
Diese Aussage kann in gewisser Weise stellvertretend auf den Prozess angewandt werden: Es wurden Chancen verpasst, die Tat gesellschaftlich zu kontextualisieren. Doch auch der Umgang der Institutionen mit den Betroffenen und ihrem Leid wurde von Pietrzyk mit Nachdruck und Nachhall angeklagt.
So sagte sie im Wortlaut: „Wir haben eine Urteilsbegründung gehört, die – und das muss ich in aller Deutlichkeit sagen – die Betroffenen in ihrer Kritik an der Polizei, wie sie sich verhalten hat an dem Tag, wie sie ihre Gefühle als traumatisierte Personen missachtet hat, wie sie ihre religiösen Gefühle missachtet hat und wie sie die Personen danach behandelt haben, wie schlecht sie die Ermittlungen geführt haben, all das weggewischt hat und die Betroffenen aufgefordert hat zu einem Perspektivwechsel – das ist, mit Verlaub gesagt, das Frechste, was ich jemals von einem Staatsschutzsenat gehört habe: Die Aufforderung an die Betroffenen, ihre Traumatisierungen an die Seite zu legen, und ‚heldenhaft‘ handelnde Polizeibeamte die gebührende Ehre zuteilwerden zu lassen. Ich glaube, das steht für sich allein.“
Die im Anschluss sprechende Nebenklagevertreterin Ilil Friedman vertrat im Prozess Adiraxmaan Aftax Ibrahim. Der Attentäter versuchte ihren Mandanten zu überfahren. Das Gericht wertete diese Tat aber nicht als versuchten Mord, sondern lediglich als ein „Versehen“ und fahrlässige Körperverletzung. Dies trotz des Wissens, dass der Täter bewusst und aus rassistischen Gründen nicht ausgewichen war. Herr Ibrahim selbst wollte an der Kundgebung nicht teilnehmen, konnte über seine Anwältin auch kein Statement überbringen, weil ihn das Urteil zu sehr getroffen habe. Auch der versuchte rassistische Mord an „Kiez-Döner“-Inhaber İsmet Tekin, ebenfalls Nebenkläger, wurde nicht als solcher anerkannt. Auf der Kundgebung zeigte Tekin sich darüber sehr enttäuscht – und bedankte sich ausdrücklich bei all den Menschen, die ihn im Prozess unterstützt haben.
Bereits am Tag des Attentats haben jüdische Gemeindemitglieder in Halle betont, dass sie sich von den Sicherheitsbehörden im Stich gelassen gefühlt haben. Dass sie sich auch im Vorfeld nicht ausreichend geschützt fühlten. All dies ist mehrfach dokumentiert[1] und nachzulesen. Wer sollte es jüdischen Menschen übelnehmen, da zu vermuten, dass dem Staat der Schutz jüdischen Lebens nicht so wichtig sei. Der erst Anfang Oktober 2020 getätigte Kommentar des damaligen sächsisch-anhaltinischen Innenministers Holger Stahlknecht (CDU), dass die Bewachung jüdischen Lebens zum Sicherheitsrisiko für die nicht-jüdische Bevölkerung werden könnte, da die dort geleisteten Arbeitsstunden woanders fehlten, ist in diesem Zusammenhang eine Demütigung sondergleichen. Sollten jüdische Menschen ein schlechtes Gewissen haben, weil sie ihr Leben gefährdet sehen?
Gesellschaftliche Zusammenhänge und Kontinuitäten müssen ausreichend erkannt; Antisemitismus, Rassismus und Misogynie adäquat eingeordnet werden
All dies sind nur einige verschiedene Eindrücke der Zeit nach dem Anschlag von Halle. Der Prozess ist nun vorbei. Es war schon lange klar, dass viele offene Fragen bleiben würden. Dass die Tat und das Umfeld des Täters noch weiter aufgearbeitet werden müssen. All dies wird in Zukunft weiterhin passieren müssen. Sollen also Forderungen wie „Nie wieder!“, die heute allerorten zu vernehmen sind, nicht zur Floskel verkommen, muss die gesamte Gesellschaft sich der gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge von Antisemitismus, Rassismus und Misogynie bewusst werden. Und das bedeutet nicht zuletzt Aufklärungsarbeit zu leisten und vereinzelt vielleicht auch scharfe Kritik zu üben.
Der Halle-Prozess wird als ein weiterer Fall in die Geschichte juristischer Prozesse gegen rechtsextreme Täter:innen eingehen, in dem die gesellschaftlichen Zusammenhänge und kernideologischen Elemente der Tat nicht ausreichend aufgezeigt und thematisiert werden. Beispielhaft zeigte sich das zu Prozessbeginn in einer der ersten Fragen von Richterin Mertens an den Täter: warum er denn vor seiner Tat nicht einmal zu einem ‚Tag der offenen Tür‘ in die Synagoge gegangen sei, um die Menschen dort einmal kennenzulernen. Die unfassbar ungeschickte Wortwahl ist das Eine – die Vorstellung, dass sich Antisemitismus, Rassismus und Misogynie in einem als imaginiertem ‚Ort der Begegnung‘ verklärten jüdischen Gebetshaus einfach so ‚wegbegegnen‘ lassen können, offenbart auch ein fundamentales Missverständnis dieser destruktiven gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die dieser Prozess doch eigentlich deutlicher hätte thematisieren können.
Er hat es nicht getan. Und er wird sicherlich nicht der letzte dieser Art sein. Dennoch: Wo das geschieht, wo Antisemitismus, Rassismus und Misogynie nicht als gesellschaftliche Verhältnisse, sondern als Idiosynkrasien vermeintlich verwirrter Einzeltäter:innen verstanden werden, sollten wir genau das tun: Zusammenhänge aufzeigen, Vorurteile bekämpfen, Ressentiments entgegentreten, Gegenreden halten. Wir können uns von diesen gesellschaftlichen Verstrickungen vielleicht nicht vollständig befreien, finden uns unausweichlich selbst in ihnen wieder – aber wir können sie zumindest mit diesem Wissen erkennen, kritisieren und für etwas Besseres streiten.
JFDA, Dezember 2020
[1] Zum Beispiel in diesem Interview, das das JFDA am Tag des Attentats mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, geführt hat: https://youtu.be/f4AHOIiiEl0
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