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"Scheiß Juden!", "Intifada" & "Schuldnerhemd" - Der 9. November 2022 in Berlin


Teilnehmer einer Kundgebung in Neukölln am 9. November 2022

Am 9. November 2022, dem 84. Jahrestag der Novemberpogrome, fanden in Berlin zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen statt, die in unterschiedlicher Art und Weise auf die antisemitischen Verbrechen der Nationalsozialisten Bezug nahmen. Während es bei der Gedenkfeier in Moabit, wie an vielen anderen Orten, um ein würdiges Erinnern und Gedenken ging, machten Akteure aus unterschiedlichen politischen Spektren durch bewusste Provokation, blanken Antisemitismus und Instrumentalisierung des Gedenkens auf sich aufmerksam.


Gedenkkundgebung und -demo in Moabit


In Moabit, am Mahnmal der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße, fand, wie jedes Jahr, eine Gedenkkundgebung mit unterschiedlichen Rede- und Kulturbeiträgen statt (wir berichteten auf unserer Website). Redner:innen forderten unter anderem eine Entschädigung der letzten überlebenden Opfer des Nationalsozialismus und der Shoah sowie die Bestrafung noch lebender TäterInnen. Ein sogenannter Schlussstrich wurde mit Nachdruck abgelehnt und die Kontinuitäten antisemitischen Gedankenguts und die daraus resultierende Gewalt kritisiert.

Die anschließende Demonstration dagegen wurde perfiderweise von zahlreichen Störaktionen begleitet. Augenzeug:innen berichteten unter anderem von mind. einem Eierwurf, „Scheiß Juden!“-Rufen und israelfeindlichen Bezugnahmen auf den sogenannten Nahost-Konflikt.


Israelfeindliche Kundgebung in Neukölln

In Neukölln rief etwa zeitgleich die erst im September gegründete Gruppe Rote Blüte Palästina zu einer Kundgebung am Hermannplatz auf. Die unter dem Titel „Von Berlin bis nach Palästina: Hoch die internationale Solidarität“ ausgerufene Veranstaltung wurde von den Gruppen Young Struggle Berlin und Samidoun beworben. Beide unterstützen die antisemitische BDS-Kampagne. Samidoun, die sich nach außen als Solidaritätskampagne für politische Gefangene inszenieren, dient in der Praxis als Teil der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) im Ausland. Die PFLP wird von Israel, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft.


Unter den zwischenzeitlich bis zu 40 Teilnehmer:innen der Veranstaltung befanden sich mehrere bekannte Akteure des antizionistischen, pro-palästinensischen Milieus.

Der Aufruf zur Kundgebung sowie die vor Ort gehaltenen Redebeiträge reihten sich rhetorisch in eine bekannte Strategie ein, die auf Anschlussfähigkeit an die antiimperialisitische Linke abzielt. Dabei wird Israel als rassistischer Kolonialstaat markiert und zum selbstverständlichen Feind jedweder sich als antirassistisch verstehenden Gruppen konstruiert. Dass diese Strategie jedoch lediglich eine Umwegkommunikation darstellt, um sich als Linke in der postnationalsozialistischen Gesellschaft gegen Antisemitismusvorwürfe zu immunisieren, wird anhand der gewählten rhetorischen Mittel und der konstruierten Zusammenhänge deutlich. Im Aufruf ist die Rede von einer „kolonialen Besatzung“ Israels sowie einer deutschen „Bestie des Imperialismus“.

Redner und Teilnehmer riefen zur "Intifada" auf.

An diese Rhetorik schlossen sich auch die zum Teil aggressiven Reden an. Nachdem die Versammlung mit antisemitischen Parolen wie „From the River to the Sea – Palestine will be free“ oder „Von Berlin bis nach Gaza – Yallah Intifada“ eröffnet wurde, delegitimierte der Hauptredner Israel als angeblich faschistische Kolonialmacht und sah in der zuletzt erfolgten israelischen Wahl einen Beleg für seine Behauptung. Dass ein solcher, demokratischer Vorgang in den palästinensischen Gebieten seit über einer Dekade zugunsten der Terrororganisation Hamas verhindert wird, verschwieg er. Zudem äußerte er Kritik an der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und NGOs – den vorgeblichen „Helfern der Kolonialisten” – diese würden „das palästinensische Volk im Stich lassen” und sich sowohl dem zionistischen als auch dem deutschen Imperialismus unterwerfen. Die Hamas erwähnte er mit keinem Wort.


Mehrfach wurde zum Boykott Israels aufgerufen. Es handele sich um eine „zionistische Besatzungsmacht“, dessen koloniale Unterdrückung der Palästinenser:innen eine antiimperialistische Bekämpfung an jedem Tag notwendig mache – konkret und insbesondere am 9. November.

Es zeigte sich, dass die Wahl des 9. November als Veranstaltungstag kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung war. Sowohl im Aufruf zur Kundgebung als auch durch den Hauptredner wurde der historische und gegenwärtige deutsche Imperialismus als Gegner adressiert und damit der Jahrestag der Novemberpogrome wissentlich vereinnahmt und für die eigene politische Agenda umgedeutet. Durch diese Entkopplung des Gedenktages vom Nationalsozialismus wird dieser verharmlost und relativiert. Anstatt die tatsächliche Bedeutung der antisemitischen Pogrome und das entsprechende Gedenken anzuerkennen, wurde versucht, das Datum in die eigene antiimperialistische Ideologie zu integrieren. Das sollte über den Umweg geschehen, indem man die Novemberpogrome als Rechtfertigung interpretierte, um sich gegen die Besatzung und Unterdrückung Palästinas mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen. Dieser Interpretation ist die Gleichsetzung des nationalsozialistischen Antisemitismus und der vermeintlichen Unterdrückung der Palästinenser:innen durch Israel inhärent – der Antisemitismus wird als spezifische Ideologie in einem dichotomen Weltbild aufgelöst, das jegliche Konflikte in die Kategorien Unterdrücker und Unterdrückte, in Gut und Böse, aufzuteilen vermag.

Insgesamt waren die Beiträge in Neukölln von verkürzter und regressiver Antikapitalismuskritik geprägt, die sich durch Verklärung nationaler Befreiungskämpfe und völkisch-nationalem Gruppendenken artikulierte. Dass die teilnehmenden Gruppen keinen konkreten Begriff von Antisemitismus haben, zeigte sich insbesondere an der mehrfach zum Ausdruck gebrachten Pflicht zum Putzen der Stolpersteine, womit man sich des eigenen Antifaschismus versichern wollte. Dies ist Teil der Umwegkommunikation, in der moderner Antisemitismus auf Israel statt auf Juden und Jüdinnen referiert, um sich dem Antisemitismusvorwurf entziehen zu können.


Rechte, verschwörungsideologische Demonstration am Alexanderplatz:

Ebenfalls zur selben Zeit versammelten sich am Alexanderplatz in Berlin-Mitte etwa 50 Teilnehmer:innen zu einem sogenannten Spaziergang. Dieser wurde von dem rechtsoffenen, verschwörungsideologischen „Freie Geister Kollektiv” initiiert, das sich sonst etwa für Autokorsos verantwortlich zeigt.

Teilnehmer:innen der rechtsoffenen Demonstration ziehen durch die Straßen Berlins.

Die Veranstaltung wurde mit einer Auftaktkundgebung eröffnet, bei der Redner Sven Streck, maßgeblich beteiligt in der Umsetzung jener Korsos, die Wahl des 9. November für die Veranstaltung thematisierte. Er betonte, dass das Datum ausschließlich den Mauerfall repräsentiere, eine andere Bedeutung gebe es für ihn nicht. Um diese Aussage zu präzisieren, führte er aus, dass „(…) unsere Kinder mit einem Schuldnerhemd durch die Gegend laufen, nur weil von oben gewollt wird, dass dieses Datum irgendeine andere Bedeutung hat“. Einerseits wird so eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben, andererseits das rechtsextreme Narrativ des sogenannten Schuldkults bedient. Demnach würde Deutschland durch die vorgeblich permanente Fixierung auf den Nationalsozialismus und die Shoah klein gehalten und instrumentalisiert. Diese Fixierung wird als narzisstische Kränkung der deutschnationalen Selbstidentifikation erlebt. Durch die Bezeichnung des 9. November als „(…) Tag der Maueröffnung, und sonst nichts“ am Gedenktag selbst, werden die Pogrome und allgemein die Erinnerung an die antisemitischen Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus bagatellisiert und seine Opfer verhöhnt.

Im weiteren Verlauf sprach der Redner Dario Reeck, ebenfalls aktiver Bestandteil der verschwörungsideologischen Proteste Berlins. Reeck nahm unter anderem Bezug auf Impfungen und Infektionsschutzmaßnahmen, die er als „(…) eines der größten Verbrechen in der Geschichte“ bezeichnete.

Verwirrung gab es um die Route des Spaziergangs. Ursprünglich sollte die Demonstration über die Große Hamburger Straße führen, was zur Folge gehabt hätte, dass die Demonstrierenden direkt am örtlichen Jüdischen Gymnasium sowie dem jüdischen Friedhof vorbeigelaufen wären. Aufgrund dessen hatte es im Vorfeld lautstarke Kritik gegeben. Die Route wurde kurz vor Beginn der Veranstaltung geändert.


Was zu sagen bleibt


Die hier angeführten Beispiele lassen deutlich werden, dass die Instrumentalisierung von Gedenktagen, wie etwa dem 9. November, in verschiedenen politischen Spektren stattfindet. Es handelt sich dabei in allen Fällen um bewusste Provokationen und mangelnde Empathie gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus und der Shoah. Es macht fassungslos, wenn am Jahrestag der Novemberpogrome antisemitische Hetze betrieben wird, Israel das Existenzrecht abgesprochen wird und Außenstehende den Teilnehmer:innen einer Gedenkfeier „Scheiß Juden” zurufen.


Es spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, um welche Akteure und Personen es sich bei den beschriebenen Vorfällen handelt. Vielmehr zeigt sich, wie tief verankert antisemitische Ressentiments in Teilen der Gesellschaft sind. Zudem ist die Reaktion auf Kritik an antisemitischen Handlungen und Aussagen in manchen Fällen entlarvend. Statt sich mit dieser ernsthaft zu befassen, geriert man sich selbst als Opfer und geht in den Gegenangriff, auch gegenüber jüdischen Institutionen.



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