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Kleinere Aufzüge trotz Demonstrationsverboten – „Nakba-Tag” in Berlin

Aktualisiert: 18. Mai 2022


Der 15. Mai spielt eine zentrale Rolle für palästinensische und pro-palästinensische Gruppen – es handelt sich hierbei um den sogenannten „Nakba-Tag”, der jährlich begangen wird. An diesem Tag wird vor allem von Palästinenser:innen, aber auch Muslim:innen anderer Nationen sowie nicht-muslimischen Menschen und Antizionist:innen der vermeintlichen „Katastrophe” (arab. „Nakba”) gedacht, womit die Flucht und Vertreibung von hunderttausenden Palästinenser:innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina in der Zeit von 1947 bis 1949 gemeint ist.


Während der „Nakba” von vielen Menschen friedlich und mit Bezug auf die eigene Familiengeschichte gedacht wird, nutzen gleichzeitig etliche antizionistische und antisemitische Gruppierungen den Tag, um falsche und im Kern antisemitische Narrative sowie Israelfeindschaft und Judenhass zu verbreiten – teilweise auch in gewaltsamen Aufzügen und Seite an Seite mit islamistischen Gruppierungen. Vergangene Demonstrationen zum „Nakba-Tag” wie zum Beispiel im Vorjahr hatten auch in Berlin das große Ausmaß an Gewalt und Antisemitismus gezeigt, das entsprechende Versammlungen annehmen können (siehe hierzu unseren Bericht vom 15.05.2021). Dieser Umstand sowie die Erfahrungen der letzten Wochen waren für die Berliner Polizei offenbar Grund genug, mehrere Veranstaltungen für das Wochenende vom 13. bis 15. Mai 2022 zu untersagen, die inhaltlich auf die „Nakba” sowie die derzeitige Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten Bezug nahmen.


Obschon diese Form prophylaktischer Demonstrationsverbote auch außerhalb pro-palästinensischer Szenen stark umstritten ist und die Verbote deshalb kontrovers diskutiert wurden, bestätigte sie das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg am Freitag. So blieb es dabei, dass die Veranstaltungen, zu denen unter anderem antiisraelische Gruppierungen wie „Palästina Spricht”, „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost” und der Berliner Ableger der „Migrantifa” aufgerufen hatten, am 15. Mai offiziell verboten blieben. (Für weitere Hintergrundinformationen zu einzelnen dieser Gruppen siehe unseren Artikel zu israelfeindlichen Gruppierungen.)


Nichtsdestotrotz kam es am Sonntag, den 15.05.2022, in Berlin zu mehreren unangemeldeten Aufzügen und Versammlungen. Gegen 14:45 Uhr sammelte sich eine Gruppe von ca. 100 Personen auf der Sonnenallee um vorgeblich für „Klimagerechtigkeit” zu demonstrieren. Vermutlich führte die Vielzahl mitgeführter palästinensischer Symbole dazu, dass die Versammlung durch die Polizei Berlin als Ersatzveranstaltung für die im Vorfeld verbotenen angesehen wurde. Der Aufzug wurde demnach in der Pannierstraße gestoppt und die Personalien der Teilnehmenden durch die Polizei aufgenommen. Zu sehen waren in dem Spontanaufzug unter anderem Symbole von „Young Struggle” (der türkischen MLKP nahestehend) und der SDAJ (der DKP nahestehend), die beide als antiimperialistische und antizionistische Organisationen gelten. Außerdem waren T-Shirts mit dem Logo der KJÖ (kommunistische Jugend Österreich) zu sehen.


Um 16:00 Uhr, zum Zeitpunkt der wohl größten der verbotenen Demonstrationen, die ursprünglich am Oranienplatz in Kreuzberg hätte starten sollen, sammelten sich vereinzelt Demonstrierende auf dem Neuköllner Hermannplatz. Auch hier griff die Polizei nach einiger Zeit ein und unterzog mehrere Personen Maßnahmen zur Identitätsfeststellung. Unter diesen Personen befand sich unter anderem Christine Buchholz. Buchholz saß bis 2021 viele Jahre für die Partei DIE LINKE im Bundestag. In der Vergangenheit fiel sie immer wieder durch antiisraelische Positionen sowie durch ihre Nähe zur antisemitischen Boykott-Kampagne BDS auf. Im Laufe der vergangenen Woche beteiligte sich die Politikerin an einer Veranstaltung mit dem Titel „Die andauernde Nakba & die Rolle der Partei Die Linke”, an der sich unter anderem auch die genannte Gruppe „Palästina spricht” beteiligte. Buchholz reine Anwesenheit war demzufolge nicht überraschend.


Ebenfalls ab 16:00 Uhr fand eine Kundgebung des Vereins „Deutsch Arabisch Zentrale für Demokratie und Menschenrechte” vor der israelischen Botschaft in Nähe des Hohenzollerndamms statt, zu der sich lediglich eine geringe zweistellige Zahl von Teilnehmenden versammelte. Offizieller Anlass war der Tod der amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh, dessen Umstände nach wie vor nicht final geklärt sind. In den Redebeiträgen spielte dieses Thema in Teilen jedoch nur eine untergeordnete Rolle.


Geprägt waren die Worte der Redner insbesondere durch tiefsitzenden Antisemitismus und Täter-Opfer-Umkehr. So wurde die Erzählung einer angeblichen jüdischen Übermacht verbreitet, die inhaltlich auf das antisemitische Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion” zurückzuführen ist. Des Weiteren wurden Israel Kolonialverbrechen unterstellt und der Staat zudem als „faschistische Besatzungsmacht” diffamiert. Besonders perfide: An mehreren Stellen wurde die israelische Politik mit NS-Verbrechen in Verbindung gebracht. Einer der Redner sprach bspw. davon, „zionistische Verbrecher” seien schlimmer als „Nazi-Verbrecher”. Auf diese Weise wird einerseits der Nationalsozialismus relativiert und andererseits Israel diffamiert. Zwar war der Zulauf zur Kundgebung gering, die Inhalte aber in weiten Teilen problematisch.


Angesichts dessen lässt sich hinsichtlich des Protestgeschehens am 15.05. festhalten, dass es in Berlin, im Gegensatz zu anderen deutschen Städten, zu keinen größeren Protesten anlässlich des „Nakba-Tags” gekommen ist.



Hintergrund – die „Nakba”


Die erste und größte Flüchtlingsbewegung von Palästinenser:innen fand unmittelbar nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung am 14.05.1948 ihren Höhepunkt, was die zeitliche Nähe des „Nakba-Tags” zum israelischen Unabhängigkeitstag erklärt. Damit war sie vor allem die Folge des Kriegs, der mit der Deklaration des UN-Teilungsplanes am 29.11.1947 zwischen arabischen Milizen und jüdischen Militärorganisationen begonnen hatte, und der durch den Einmarsch ägyptischer, transjordanischer, syrischer, libanesischer und irakischer Truppen internationale Ausmaße annahm. Diese Nationen hatten Israel einen Tag nach seiner Staatsgründung den Krieg erklärt und vielerorts die palästinensische Bevölkerung aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen und sich in die arabischen Nachbarstaaten zurückzuziehen, um ihren vorrückenden Armeen Platz zu machen und nicht zwischen die Fronten zu geraten.


Die arabischen Nationen gingen von einem sicheren Sieg über Israel aus und stellten den palästinensischen Flüchtlingen die baldige Rückkehr in ihre Häuser und Ortschaften in Aussicht. Mit dem Ende dieses Kriegs im Juli 1949 wurde jedoch klar, dass eine Rückkehr für die meisten Palästinenser:innen nicht mehr möglich war. Israel hatte den Krieg für sich entschieden und kam in der Folge zu einem größeren Landbesitz, als es der UN-Teilungsplan vorgesehen hatte, der zuvor von den arabischen Nationen abgelehnt worden war.


Unabhängig von den Hintergründen und Umständen der Flüchtlingsbewegung wurde „al Nakba” im kollektiven Gedächtnis von Palästinenser:innen zu einem traumatischen Ereignis, mit dem viele bis heute den Verlust ihrer früheren Heimat verbinden. Noch immer ist daher der Schlüssel ein tragendes Symbol bei Nakba-Gedenkveranstaltungen und -Demonstrationen. Er steht für die zurückgelassenen Häuser im ehemaligen Mandatsgebiet, zu denen viele der palästinensischen Flüchtlinge bzw. deren Nachkommen noch immer die Haustürschlüssel aufbewahren.


Zeitgleich mit der Flucht und Vertreibung der Palästinenser:innen fanden die Flucht und Vertreibung von etwa 850.000 Jüdinnen:Juden aus arabischen und islamischen Ländern statt, die bis in die 1970er-Jahre fortdauerten. In diesem Kontext wird auch von der „jüdischen Nakba” gesprochen. Der überwiegende Teil der jüdischen Geflüchteten fand in Israel eine neue Heimat.


Auf Kundgebungen und Demonstrationen zur Nakba (wie auch in Frankfurt am 14.05.2022: https://twitter.com/JFDA_eV/status/1525497478451273728) wird immer wieder das Gedenken an die historischen Ereignisse auch mit Aufrufen zum „Widerstand” gegen die als illegitime Besatzungsmacht angesehene israelische Regierung und zur „Rückeroberung” der ehemaligen palästinensischen Gebiete „from the river to the sea” verbunden. Dabei handelt es sich um eine weitverbreitete antizionistische und antisemitische Parole (mit dem Zusatz „Palestine will be free”), die die vollständige Vernichtung des jüdischen Staates impliziert. (Zum Narrativ der „Nakba” sowie der angeblichen „ongoing Nakba” und Slogans wie „From the river to the sea” vergleiche auch unser Glossar antisemitischer Narrative und Parolen.)


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