Mindestens 40 Menschen starben am Wochenende um den 15.01.2023 nach russischen Raketenangriffen in der ukrainischen Industriestadt Dnipro. Zahlreiche weitere werden noch vermisst. Der Kreml weist, wie so oft, jegliche Verantwortung für die getöteten Zivilist:innen von sich. Zeitgleich fand am Sonntag eine linke Demonstration in Berlin statt. Ungeachtet der Ereignisse in der Ukraine forderte man einen sofortigen „Waffenstillstand“ oder „Hands off Russia“ und betonte: „Wir sagen nein zur aggressiven Nato!“. Eine Szenerie, die trotz ihrer Erwartbarkeit fassungslos macht.
Jedes Jahr im Januar findet sich die antiimperialistische Linke zu einem gemeinsamen Gedenkmarsch an die am 15.01.1919 ermordeten sozialistischen Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin zusammen. In der Vergangenheit kam es hierbei immer wieder zu antizionistischen und antisemitischen Vorfällen. Dies war angesichts einzelner der beteiligten Gruppen und dem zuvor veröffentlichten Aufruf auch in diesem Jahr zu erwarten. Nachdem die Zahl der teilnehmenden Personen seit den frühen 2000ern abnahm und in den letzten Jahren (auch pandemiebedingt) ihren Tiefpunkt erreichte, hofften die Veranstalter:innen dieses Mal wieder auf Zuwachs.
Tatsächlich waren es fast 4.000 Teilnehmer:innen, die sich am Sonntagmorgen in der Nähe des Frankfurter Tors in Berlin-Friedrichshain versammelten, um über die Frankfurter Allee bis zur Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde zu ziehen. Dort legten Teilnehmende zum Abschluss rote Nelken und Kränze ab. In den unterschiedlichen Blöcken waren fast alle Spektren der sich als antiimperialistisch bezeichnenden Szene vertreten. An einigen Stellen kam es zu beinahe skurrilen, an anderen zu antisemitischen und revisionistischen Vorfällen. Die Wirkung pro-russischer und antiwestlicher Propaganda zeigte sich auf zahlreichen Plakaten, in Sprechchören und einzelnen Redebeiträgen.
Neue Auffälligkeiten…
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine spielte in fast allen Blöcken eine zentrale Rolle. Statt die Verantwortung hierfür auf Seiten Russlands zu verorten, wurden oft die Nato, die USA oder gleich der gesamte Westen als die vermeintlich Schuldigen benannt. Die Beurteilung des Kriegsgeschehens fiel jedoch insgesamt unterschiedlich aus.
Der unter anderem von Politiker:innen der Partei DIE LINKE angeführte erste Block vermittelte verhältnismäßig neutrale Botschaften. Demgegenüber forderten andere Teilnehmer:innen mitunter einen „Waffenstillstand“, „Frieden mit Russland“ oder verdrehten mit der Losung „Hände weg von Russland“ den Angriffskrieg auf die Ukraine zu einer legitimen Verteidigung des Aggressors. Eine Person trug während des gesamten Demonstrationszugs eine Fahne der russischen Separatisten der Donbass-Region mit sich. Die genannten Statements und Positionierungen wirkten besonders an diesem Tag perfide: Nach russischem Raketenbeschuss auf ein Wohnhaus im ukrainischen Dnipro kamen an jenem Sonntag bis zu 50 Zivilist:innen ums Leben.
Auffällig war, wie schon die letzten Jahre, ein ausgeprägter Personenkult: Etliche Banner zeigten die Bildnisse von Stalin, Lenin oder Mao, die man auch in Sprechchören symbolisch in ihre Mitte rief. Die vielen Opfer dieser autoritären Herrscher und deren protofaschistischen und in Teilen antisemitischen Weltbilder wurden verschwiegen und verleugnet. Daneben wurden nationale Befreiungsorganisationen und ihre Anführer verherrlicht, zum Beispiel der 2021 verstorbene Abimael Guzmán (auch Comandante Gonzalo), der als Anführer der peruanischen maoistischen Guerilla-Gruppe „Leuchtender Pfad“ ab den 80er Jahren einen grausamen Bürgerkrieg anzettelte. Dieser traf vor allem die indigene Zivilbevölkerung der ärmsten Regionen Perus.
…alte Ressentiments bzw. Feindbilder…
Auch die Sprechchöre und das Auftreten der sogenannten internationalistischen Jugendblöcke waren in Teilen befremdend. „Von Lützerath bis Gaza, Yallah Intifada“, „Mali, Donbass, Gaza-Stadt – macht den Westen endlich platt“ oder „Erst der Griff der Masse zum Gewehr, bringt den Sozialismus her“ sind nur einige Beispiele für ein dualistisches Zerrbild, das diese Gruppen zur Problemlösung von politischen Konflikten anbieten. In Reih und Glied einheitlich gekleidet, vermummt und mit roten Fahnen zu Trommelrhythmen marschierend, gab man sich auch optisch einer militaristisch angehauchten Folklore hin.
Andere kleinere Blöcke fielen weniger durch martialisches Auftreten als durch israelfeindliche Parolen und Sprechchöre auf. Die palästinensische Gruppe Samidoun führte unter anderem ein „Boycott Israel“ Banner mit und solidarisierte sich mit dem Terroristen Georges Ibrahim Abdallah. Abdallah war PFLP-Mitglied und galt als Anführer der Libanesischen Revolutionären bewaffneten Fraktion (FARL). 1987 wurde er wegen Beihilfe zum Mord an einem israelischen Diplomaten zu lebenslanger Haft verurteilt. Samidoun wurde für ihre antisemitischen Ausfälle keineswegs kritisiert oder gar daran gehindert diese kundzutun, im Gegenteil: Die Feindlichkeit gegenüber Israels war charakteristisch und einzige Botschaft der Gruppe, die mit „Boykott Israel“ oder „From the River to the sea – Palestine will be free“-Rufen bis zum Ende des Aufzugs lautstark Ausdruck fand. Die mit dieser Vehemenz vorgetragene Ablehnung des jüdischen Staates wirkt umso verstörender, wenn gleichzeitig die bereits erwähnten Diktatoren und Schreckensregime unwidersprochen glorifiziert werden, welche teilweise tausende Menschen das Leben kosteten.
…und antiimperialistische Kontinuitäten.
Alle beschriebenen Vorfälle sind zwar aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre und der an diesem Demonstrationszug beteiligten Gruppen und Verbände nicht überraschend, aber immer wieder desaströs und entlarvend. Die sich als progressiv und emanzipatorisch gerierende Szene schreckt nach wie vor nicht vor Verbreitung und Glorifizierung menschenfeindlicher Ideologien und Personalien zurück.
Auch bei entsprechend kritischer Konfrontation gibt es keine Distanzierung von solchen Positionen, sondern die bekannte Abwehr- und Schuldumkehr-Argumentation. Eine Solidarisierung mit Jüdinnen:Juden, der ukrainischen Zivilbevölkerung sowie anderen Betroffenen von Verfolgung und Gewalt suchte man auch in diesem Jahr vergeblich.
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