Am Samstag, den 3. Oktober 2020, bot sich Berliner Passant:innen auf der Scheidemannstraße neben dem Reichstagsgebäude ein sonderlicher Anblick: Etwa 70 Personen in teils blauen Hemden hatten sich zu einem Aufmarsch der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ), der heutigen Neuauflage der einstigen Jugendmassenorganisation in der DDR, versammelt. Mit roten Fahnen und Halstüchern, Tröten, einem alten DDR-Lastwagen und Transparenten zogen sie durch das Regierungsviertel. Unter ihnen waren sowohl Jugendliche, als auch ältere Menschen. Es ist zu vermuten, dass die meisten Teilnehmer:innen, wie bei vergangenen Aufmärschen dieser Art in Jena und Zwickau, aus westdeutschen Bundesländern kamen. Das Zentrum der heutigen FDJ liegt im bayerischen Regensburg.
Gemeinsam war den Teilnehmenden nicht nur das kritiklose Eintreten für die ehemalige Deutsche Demokratische Republik, sondern auch ein personalisierendes Verständnis vom Kapitalismus, in dem Wirtschaft und Gesellschaft als von bösartigen „Kapitalisten“ beherrschtes Ausbeutungssystem angesehen werden. Zu diesem Weltbild passten auch die Klänge, die aus der Lautsprecheranlage tönten. So wurde u.a. das sowjetische Lied „Der heilige Krieg“ in der Version von Ernst Busch gespielt. Eine Teilnehmerin skandierte „Krieg dem Krieg – entwaffnet die Kapitalisten“ und ein Funktionär appellierte an „den Kampf der Völker der Welt“ als Mittel zur Herstellung eines globalen Friedens in einem sozialistischen System. Auch die Darstellung der Hyäne unterstreicht dieses Weltbild. Die Collage, die der Künstler John Heartfield nach Ende des Ersten Weltkriegs anfertigt hatte, stellt die Angehörigen der Wirtschaftselite als Kriegstreiber dar, die von kommenden Kriegen profitieren würden. Immer wieder ist diese Art einer verkürzten Kapitalismuskritik auch Ausgangspunkt für antisemitische Stereotype.
Die FDJ entstand bereits in den 1930er Jahren im Exil in Paris und der Tschechoslowakei. In Großbritannien unterstützte die Jugendorganisation hauptsächlich die jüdischen Emigranten, viele von ihnen kamen mit den Kindertransporten ins Land. Bedeutung gewann die FDJ jedoch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), bzw. in der 1949 gegründeten Deutschen Demokratische Republik. Als Vorbild galt die sowjetische „Komsomol“, die Jugendorganisation der KPdSU. Der erste Vorsitzende der kommunistischen Jugendorganisation war der spätere Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) Erich Honecker. Die FDJ fungierte als Massenorganisation zur Verbreitung der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus, in der westlich-kapitalistische Staaten als imperialistisch verdammt wurden, während das autoritäre Herrschaftssystem der Sowjetunion glorifiziert wurde. Während der DDR-Diktatur waren rund 80% der Jugendlichen Mitglied der Organisation. Wer sich versperrte, hatte mit Nachteilen zu rechnen. In der Bundesrepublik wurde die West-FDJ 1951 verboten, dieses Verbot wurde 1954 in letzter Instanz bestätigt.
Heute ist nichts mehr geblieben von der einstigen Größe: Nur rund 70 Menschen bekam die einst millionenschwere Jugendorganisation in Berlin auf die Straße. Am 30. Jahrestag der Deutschen Einheit stand vor allem die in ihren Augen „völkerrechtswidrige Annektierung“ der DDR durch die Bundesrepublik im Vordergrund. Dies verkündeten sie auch den verwunderten Zuschauer:innen mit der Parole „Wiedervereinigung war es nie!“. Unter dem Motto „30 Jahre sind genug!“ sehnten sich die geschichtsrevisionistischen Teilnehmer:innen des Aufmarschs zurück in ein Land, das zu mindestens die jungen unter ihnen nie erlebt hatten.
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