documenta15
5.3. Bezug zum Historikerstreit 2.0
5. Gesellschaftliche Einordnung
Der so genannte Historikerstreit 2.0 ist eine öffentliche politische Debatte um die Erinnerungspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Sie begann im Jahr 2020 mit der so genannten Causa Mbembe: Der kamerunische Philosoph Achille Mbembe, einer der profiliertesten Autor:innen des Postkolonialismus, wurde im Kontext seiner Einladung als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale 2020 für bestimmte antisemitische Ideologeme in seinen Schriften kritisiert. Zu den ersten seiner Kritiker:innen zählte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein. Schnell wurde Mbembe beigesprungen: Die Zitate seien aus dem Kontext gerissen und keinesfalls antisemitisch. Weiterhin wurde kritisiert, dass hier ein afrikanischer Vertreter des Postkolonialismus, also einer im weitesten Sinne antirassistischen und antikolonialen akademischen Denkrichtung, offenbar mundtot gemacht werden sollte. Es gehe also nur vordergründig um die Kritik des Antisemitismus, die von rechten Akteur:innen vorgetragen werde – in Wirklichkeit sei die Kritik Mbembes eine rassistische Diskriminierung einer Stimme des postkolonialen „Globalen Südens“. Außerdem sei es perfide, von jemandem wie Mbembe, der überhaupt keinen biographischen Bezug zur Geschichte von Nationalsozialismus, Antisemitismus und bundesdeutscher Aufarbeitungskultur habe, zu verlangen, er müsse sich mit den lokalen Gepflogenheiten des Erinnerungsdiskurses auskennen und ganz genau wissen, was Antisemitismus ist und wie er sich artikulieren kann. Man sollte hier nachsichtiger sein.
Im Zuge der „Causa Mbembe“ gründete sich die Initiative GG 5.3, ein Zusammenschluss aus Einzelpersonen und Institutionen des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs, die sich inhaltlich nicht offen pro Mbembe positionierte, aber in der Debatte um seine Schriften zumindest eine fortschreitende Einschränkung der Redefreiheit in Deutschland erkannte. Das kritisierte sie auch in Bezug auf den so genannten BDS-Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2020, der die BDS-Kampagne als in ihren Zielen antisemitisch verurteilte und finanzielle oder logistische Unterstützung für der Bewegung nahestehende Organisationen in Bundesgebäuden ausschließt. Der Name der Initiative verweist auf Artikel 5.3 des Grundgesetzes der BRD, der die Meinungsfreiheit garantiert. Mit einer solchen Argumentation werden allerdings die tatsächlich antisemitischen Versatzstücke in Mbembes Texten als bloße Meinungsäußerungen verteidigt und relativiert.
Auch dieser Punkt ist seitens der documenta-Leitung immer wieder thematisiert worden: Eine Kontextualisierung der Kunstwerke oder gar ihre Entfernung aufgrund von antisemitischen Aussagen käme der Zensur gleich. Kunst sei ein Raum, der sich der Beurteilung und Einordnung von Meinungen und Positionen nicht widmen sollte.
Im Frühjahr 2021 wurde die Studie „Multidirektionale Erinnerung“ des US-Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg als deutsche Übersetzung veröffentlicht. Sie sorgte für eine zweite Phase des Historikerstreits 2.0 und regte eine intensiv und teils hitzig geführte Debatte darüber an, ob das bundesrepublikanische Holocaustgedenken in einer postmigrantischen und postkolonialen Gesellschaft noch zeitgemäß und eventuell sogar exkludierend sei. Stimmen aus dem „Globalen Süden“ sollten stärker berücksichtigt und ihre Perspektive auf das Holocaustgedenken inkludiert werden. Der Genozidforscher A. Dirk Moses hat bestimmte Aspekte des bundesrepublikanischen Holocaustdiskurses als „Katechismus“ beschrieben, der eine postkoloniale Perspektive verhindere und daher überwunden gehöre.
In gewisser Weise kann der Historikerstreit 2.0 als theoretischer Vorläufer der documenta-Debatte gewertet werden. Viele der in ihm diskutierten Fragen und Aspekte tauchen auch im Kontext der Auseinandersetzung um die documenta wieder auf.