documenta15
5.1. Antisemitismus wird geleugnet, Kritik wird abgewehrt
5. Gesellschaftliche Einordnung
In der Debatte um die documenta15 fiel immer wieder auf, dass Kritik auf zu erwartenden bzw. bestehendem Antisemitismus in ausgestellten Kunstwerken verleugnet oder gar abgewehrt wurde. Das einzige Bild, das tatsächlich entfernt wurde, ist das Banner von Taring Padi. Bemerkenswert ist, dass es als einziges der als antisemitisch kritisierten Bilder nicht aus dem Kontext des israelbezogenen Antisemitismus stammt, sondern eher an ältere antijudaistische Darstellungen sowie solche vom Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert. Nicht wenige Beobachter:innen zogen Parallelen zu Karikaturen aus der NS-Zeitschrift Der Stürmer.
Die Kritik des Antisemitismus ist besonders kurz vor dem Ende der documenta15 oftmals als rassistisch motiviert abgewehrt worden, vor allem durch beteiligte Künstler:innen selbst. Das Kollektiv ruangrupa, das die diesjährige documenta kuratierte, veröffentlichte gemeinsam mit weiteren auf der documenta15 ausstellenden Künstler:innen am 10. September 2022 einen offenen Brief, der auf den Bericht des wissenschaftlichen Expert:innengremiums reagierte. Ruangrupa hatte laut Medienberichten zuvor bereits Kritiker:innen wie dem Internationalen Auschwitz Komitee, die sich gegen die antisemitischen Darstellungen ausgesprochen hatten, Rassismus vorgeworfen.
Diese Art von Abwehr ist in der Vergangenheit im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder beobachtet worden, sobald Antisemitismus nicht bei autochthonen Deutschen oder per Zuschreibung mit dem „Westen“ zugeschrieben Personen erfolgte, sondern von solchen des „Globalen Südens“.
Indem aber jegliche Kritik als Rassismus diffamiert wird, findet keine tatsächliche Auseinandersetzung mit den genannten Vorwürfen statt. Es wird eine Scheindebatte geführt, um sich vor Kritik zu immunisieren. Die inhaltliche Kritik an antisemitischen Darstellungen wird dadurch verdrängt und der Fokus verschoben. Oft generiert der Hinweis auf möglichen Antisemitismus mehr Empörung als der kritisierte Antisemitismus an sich. Diese Erfahrung spiegelte sich auch im Rahmen der documenta15 wider, wo der Eindruck entstand, der Vorwurf des Antisemitismus sei moralisch und gesellschaftlich stärker geächtet als die Kritik an Antisemitismus selbst. Nicht selten sehen sich Kritiker:innen dann ihrerseits wiederum mit Vorwürfen konfrontiert, wonach sie etwa aus rassistischen Motiven handelten. Statt sich mit den eigentlichen Inhalten zu befassen, wird auf diese Weise versucht, die Vorwürfe abzuwehren und zu entkräften. Positionen von Betroffenen werden – anders als zum Beispiel in antirassistischen Debatten stets gefordert – in der Regel nicht auf die Art und Weise ernst genommen, wie es der Fall sein sollte. Jüdinnen:Juden oder jüdische Einrichtungen werden oftmals alleingelassen.
Statt die Anliegen und Hinweise der Betroffenen ernst- bzw. überhaupt erst wahrzunehmen, beklagten im Zuge der documenta15 einige derer, an die sich die Kritik eigentlich richtete, die Kritiker:innen würden sich einem konstruktiven Dialog entziehen. Demzufolge böten die Ereignisse einen guten Anlass, um ins Gespräch zu kommen und eine sachliche Debatte zu führen. Angesichts des offenen Antisemitismus und den Umgang mit diesem, stellt sich jedoch die Frage, worüber genau in diesem Fall gesprochen bzw. diskutiert werden sollte.
Die Behauptung eines fehlenden Dialogs und mangelnder Sachlichkeit, die auch in der öffentlichen Berichterstattung immer wieder formuliert wurde, basiert auf einem fatalen und dennoch weit verbreiteten Irrglauben: Als Verantwortliche für den Skandal werden nicht diejenigen erachtet, die Antisemitismus und Israelhass verbreiten, sondern jene, die Kritik daran üben. Nachdem also monatelang Kritik übergangen und jüdische Stimmen wissentlich überhört wurden, beklagt man dann, sie entzögen sich der Debatte. In der Konsequenz erfolgt dadurch eine für Antisemitismus charakteristische Täter-Opfer-Umkehr.
Darüber hinaus wird in Debatten wie dieser immer wieder die angebliche Einschränkung von Meinungs- bzw. Kunstfreiheit beklagt, die mit Redetabus einherginge. Insbesondere im Kunst- und Kulturbereich ist diese Auffassung verbreitet. Im Falle der documenta15 wurden Forderungen nach einer möglichen Überprüfung der ausgestellten Werke nicht zuletzt mit Verweis darauf abgewiesen, man wolle die verantwortlichen Künstler:innen keiner Gesinnungsprüfung unterziehen.
Auch in diesem Zusammenhang liegt ein Irrglaube vor: Zwar sind Meinungs- bzw. Kunstfreiheit zentrale Elemente des demokratischen Zusammenlebens, doch Antisemitismus wird durch sie nicht gedeckt. Antisemitismus ist keine Meinung.