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Zum Antisemitismus in der deutschen Linken


„Aufklären und ächten ist die ständige Sisyphus-Arbeit! Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass in unserer Mitte Judenfeinde ihre Stimme erheben, offen oder verdeckt.“

Im Gespräch mit Martin Kloke über Antisemitismus in der Linken und das Verhältnis der deutschen Linken zu Israel

Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Das bedeutet für uns, ihn sichtbar zu machen und zu kritisieren, egal wo er auftritt. Die politische Rechte ist ein wesentlicher Träger von manifestem bis latentem Antisemitismus. Der Antisemitismus in anderen Bereichen der Gesellschaft bleibt jedoch zuweilen ein blinder Fleck kritischer Gesellschaftsanalysen. Wir haben uns mit dem Politikwissenschaftler Martin Kloke über die Geschichte des Antisemitismus in der deutschen Linken und die Entwicklung ihres Verhältnisses zu Israel unterhalten. Rechtsextremistische und islamistische Kräfte haben kein Monopol auf Antisemitismus und als Jüdisches Forum für Demokratie gilt es uns, Antisemitismus umfassend in all seinen Facetten in den Blick zu nehmen.

Dr. Martin Kloke promovierte 1989 an der Universität Gießen zum Thema „Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses“. Heute ist er Redakteur für die Fächer Ethik, Philosophie und Religion beim Cornelsen Verlag in Berlin. Zudem forscht und publiziert er zu den deutsch-israelischen sowie christlich-jüdischen Beziehungen mit einem Schwerpunkt auf linkem Antisemitismus.

Was verstehen Sie unter dem Begriff „die Linke“? Wer oder was wird darunter analytisch subsumiert?

Immer wieder höre ich Fragen wie diese, meist als Einwände formuliert: „Was ist denn nur ‚links’– angesichts der Vielzahl linker Milieus und sektierischer Abspaltungen?“ Über die vermeintlich „richtige“ Definition können wir in Zeiten von Fake News lange plaudern. Näher an einer Klärung dran sind wir, wenn wir die legendäre Beschreibung der Pornographie durch James Potter Stewart, einst Mitglied am Obersten Gerichtshof der USA, in Erinnerung rufen: „Ich habe keine Ahnung, wie ich sie definieren soll, aber sagen wir es einmal so: Ich weiß, was es ist, wenn ich sie sehe.“ Diese Beobachtung trifft auch auf die Beschreibung der Linken zu. Deswegen neige ich zu einer pragmatischen Definition: Personen und Milieus gehören immer dann zur Linken, wenn sie sich a) in ihrer eigenen Wahrnehmung als „links“ begreifen (Recht auf Selbstdefinition) und b) ihren gesellschaftsverändernden Utopie-Entwurf im Kontext aufklärerischer Traditionen zu realisieren suchen.

Die Traditionslinien der deutschen Linken reichen vor den Nationalsozialismus zurück – gilt das auch für antisemitische Kontinuitäten?

Ja, denn der Hass auf „die Juden“ gehört zum ältesten Ressentiment der Menschheitsgeschichte und macht vor keiner sozialen Gruppe Halt. Jahrhundertelang war der Judenhass ein integrales Merkmal der europäischen Kultur. Selbst renommierte Aufklärer des 18. Jahrhunderts wie z. B. Voltaire und Immanuel Kant sowie führende Vertreter der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts wie etwa Karl Marx waren nicht frei von judenfeindlichen Gefühlen. Einerseits zeigten sich Anhänger der Linksparteien sowohl in der Kaiserzeit als auch in der Weimarer Republik deutlich weniger für antisemitische Ressentiments anfällig als die Vertreter konservativer und deutsch-nationaler Milieus; andererseits machten auch linke Exponenten Konzessionen an den antijüdischen Zeitgeist. Symptomatisch war der Aufruf des kommunistischen ZK-Mitglieds Ruth Fischer 1923: „Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß […]. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner …?“

Im Nationalsozialismus formierte sich nie ein breiter linker Widerstand. Was bedeutete das für das Selbstverständnis der Linken?

Der Aufstieg des Nationalsozialismus und seine Akzeptanz in der „Volksgemeinschaft“ bedeutete auch eine Niederlage für die deutsche Linke. Die Nazis konnten sich mit opulenten Versorgungsleistungen für alle „Arier“ eine breite Zustimmung erkaufen – eine verstörende Tatsache, mit der umzugehen sich auch Linke immer schwergetan haben. Statt sich mit eigenen familiengeschichtlichen Verstrickungen auseinanderzusetzen, haben viele Linke die Schoah als peripheres Element faschistischer Gewaltherrschaft verharmlost.


Indem sie die bürgerlich-demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik und ihren Staat unter Faschismusverdacht stellten, feierten sie moralische Siege zum Nulltarif. Dadurch verlor für sie der historische Nationalsozialismus samt seinem Terrorsystem an Schrecken, während der Holocaust im Kontext tagespolitischer Grabenkämpfe nur noch als nützliche Metapher zur Denunziation des politischen Gegners missbraucht wurde.Derart seiner zentralen Bedeutungsgehalte beraubt, war der Schritt zur Internationalisierung und Ubiquitarisierung des Faschismusvorwurfs rasch getan. Eine fatale Folge waren nicht zuletzt am Staat Israel ausgelebte Projektionen, an deren Ende die ersehnte Gleichung stand: „Zionismus = Faschismus“.

Nach dem Nationalsozialismus und dem Zivilisationsbruch durch die Schoah stand die Nachkriegslinke vor der Aufgabe sich neu zu formieren und die Erinnerung und Aufarbeitung der deutschen Gräueltaten in diesen Prozess aufzunehmen. Welche Rolle spielte die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in dieser Zeit?

Jüdische Themen waren im Nachkriegsdeutschland zunächst mit einem Tabu belegt: Die Deutschen vermieden nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit; sie ignorierten auch das zionistische Aufbauwerk und die jüdisch-arabischen Auseinandersetzungen. Man hatte anderes zu tun – „die Deutschen“, so beobachtete schon wenige Wochen nach Kriegsende die überlebende Berliner Jüdin Inge Deutschkron, „wurden damals […] von einem primitiven Selbsterhaltungstrieb geleitet, der alle Interessen für andere Dinge als ihr eigenes Schicksal ausschloss.“ Gewiss lassen sich auch einzelne Gegenbeispiele finden: Aus Theresienstadt zurückkehrende Juden, die mit Blumen vom Bahnhof abgeholt wurden, Straßensammlungen für KZ-Opfer und andere Zeichen spontaner Hilfsbereitschaft. Es gibt allerdings Indizien, dass sich in diese Hilfsbereitschaft auch Vergeltungs- und Racheängste mischten; es dauerte bis zum Herbst 1945, bis sich diese Ängste als das herausstellten, was sie waren: Projektionen und Fantasien – Symptome eines schlechten Gewissens. Vorherrschende kollektive Befindlichkeit war nach dem allmählichen Aufwachen aus der narkotisierenden Politparalyse jenes Selbstmitleid, von der Hannah Arendt 1950 überrascht wurde. Während ihres ersten Deutschland-Aufenthalts seit 1933 wurde die in die USA vertriebene Publizistin und Philosophin Zeugin, wie nichtjüdische Deutsche ihre kriegsbedingten Leiden mit denen der Juden verglichen und aufrechneten.

Doch aus der Melange aus kollektivem Schweigen und Selbstmitleid sollte keine falsche Schlussfolgerung gezogen werden: Der Antisemitismus als ein traditionelles Mentalitätsmerkmal der deutschen und europäischen Gesellschaften war mit dem Nationalsozialismus keineswegs untergegangen – nicht einmal in antifaschistischen Kreisen: Kein Geringerer als der im amerikanischen Exil lebende Schriftsteller Thomas Mann hatte wenige Monate nach Kriegsende nichts Besseres zu tun, als über rassetheoretische Empfindungen zu schwadronieren. Selbst eine publizistisch-moralische Ikone wie Marion Gräfin Dönhoff schrieb schon 1948 eine Gleichsetzung der israelischen Regierung mit dem NS-Regime herbei.

Erst mit dem so genannten Wiedergutmachungsabkommen von 1953 begannen Teile der politischen Linken sich mit der NS-Vergangenheit zu beschäftigen; zugleich erschien der junge jüdische Staat Israel auf dem Radarschirm öffentlicher Wahrnehmung. Der Antizionismus der Vorkriegszeit war gründlich desavouiert, der zionistische Geschichtspessimismus auf furchtbare Weise verifiziert. Ende der 1950er Jahren wurde eine proisraelische Grundeinstellung zum Prüfstein wahrhaft demokratisch-geläuterter Gesinnung. Sozialdemokratische und christliche Linke stellten sich an die Spitze dieses Paradigmenwechsels. Viele von ihnen, mit Ausnahme der moskautreuen Kommunisten, begeisterten sich für Israel, für das fortschrittliche Aufbauwerk in dem „anti-kolonialistischen Pionierstaat“. So avancierte das sozialdemokratisch regierte Israel mit seinen sozialistischen Kibbuzim in Teilen der Linken zum progressiven Gegenmodell zum als restaurativ wahrgenommenen Adenauer-Staat – im Vergleich zu fortdauernden NS-Einflüssen in der Bundesrepublik gewiss eine sympathische Projektion, die in ihrer Dichotomie aus heutiger Sicht aber naiv anmutet.

Die Beziehung der deutschen Linken zu Israel erfuhr mit dem Sechstagekrieg 1967 einen Bruch: Wie würden sie die Veränderung des Verhältnisses zu Israel beschreiben? Was könnten Erklärungsansätze sein?

Israel suchte sich Anfang Juni 1967 der Einkreisungsstrategie seiner „Nachbarn“, orchestriert von arabischen Vernichtungsdrohungen, durch einen Präventivschlag zu erwehren. Eine Welle der Sympathie erfasste den jüdischen Staat überall in der westlichen Welt, besonders aber in Westdeutschland. Unter dem Eindruck einer monströsen Rhetorik der arabischen Kriegspropaganda schien es, als falle der Linken eine besondere moralische Verantwortung für die Existenz des jüdischen Staates zu. Allerorten kam es zu proisraelischen Demonstrationen und Spendensammlungen. Auffallend ist, dass die Initiative zu beinahe allen Aufrufen und Kundgebungen von Personen des linken Spektrums ausgingen. Der DGB und seine Jugendorganisationen, die SPD und ihre Parteiuntergliederungen, Evangelische Studentengemeinden und die Aktion Sühnezeichen, Studentenvertretungen einschließlich lokaler Gruppen des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – sie alle organisierten Schweigemärsche, Infoveranstaltungen, Spendenaktionen und Solidaritätsaufrufe.

Doch die deutsch-israelische Romanze sollte nicht lange währen: Die Tatsache, dass der jüdische Staat nicht unterging, sondern sich wehrhaft behauptete – dieser „Sündenfall“ war im linken Weltbild nicht vorgesehen: Während bürgerlich-konservative Kreise plötzlich Israel-Sympathien zeigten, wechselten weite Teile der radikalen Linken die Fronten (das war das innenpolitische Motiv). Binnen weniger Wochen nahmen sie den jüdischen Staat nur noch als „zionistisches Staatsgebilde und als Brückenkopf des US-Imperialismus“ wahr (das war das antiimperialistische Motiv). Hinter der Kritik am angeblich „aggressiven“ Präventivschlag verbargen sich zunehmende Zweifel an der Legitimation Israels an sich.


„Onkel Henry“. Henry Kissinger, Außenminister der USA – hier als Eier legendes Huhn. Die Physiognomie erinnert an einschlägige Stürmer-Karikaturen; der Hut symbolisiert die zionistisch-amerikanische Symbiose – unterschwellig werden die USA hier und in anderen Dokumenten als die Inkarnation einer jüdisch-zionistischen Verschwörung gezeichnet. Die massenhaft produzierten „Eier“ symbolisieren die israelfreundlichen „Schandtaten“ der westlichen Supermacht.

Für einige Aktivisten war es die „Gnade der späten Geburt“, die sie zu ihrem nassforschen Israel-Bashing brachte. So schrieb der SDS-Vorsitzende Reimut Reiche: „An unserer Position ist so viel richtig, dass wir es nicht nötig haben, philosemitisch aufzutreten, eben darum, weil wir keine rassistischen Probleme haben und weil wir keinen Antisemitismus zu bewältigen haben.“

Der antiisraelische Furor der radikalen deutschen Linken speiste sich nicht allein aus den erwähnten antiimperialistischen und innenpolitischen Motiven. Es gibt auch eine historisch bedingte sozialpsychologische Dimension, die wohl die gefährlichste „Zutat“ in dem giftigen Cocktail ist – das Bedürfnis, die Verbrechen der eigenen Eltern oder Großeltern aufzurechnen und zu entsorgen:

„Je ‚böser’ die Israelis gezeichnet werden, desto ‚besser’ können ‚wir’ uns fühlen – dann war der Holocaust, wenn wir ihn schon nicht leugnen können, wenigstens nicht einzigartig.“ In diesem Gedankenkonstrukt mutieren ausgerechnet die ehemaligen Opfer zu Tätern eines neuen Holocausts – und „wir“ avancieren zu den Guten. Dieser „israelkritisch“ camouflierte Antisemitismus streut seine Ressentiments bis heute in scheinbar ehrbarer Gestalt aus – wahlweise im Namen der Vergangenheitsbewältigung, der Menschenrechte oder des Antirassismus.

In Ihrer Dissertation „Israel und die deutsche Linke – Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses“ beschreiben Sie eine Art Generationenkonflikt zwischen alter und neuer Linke, zum Ende der 1960er Jahre. Wie gestaltete sich dieser?

Weil die sog. Altlinken der frühen Bundesrepublik noch eine biografische Nähe zu den deutschen Juden in der Weimarer Republik bzw. in der Frühzeit der NS-Regimes hatten und einige von ihnen durch gemeinsame Exilerfahrungen sogar gefühlsmäßig miteinander verbunden waren, erwiesen sie sich vor antisemitischen und antizionistischen Versuchungen eher gefeit als jene neudeutschen Linken, die aufgrund ihrer „Gnade der späten Geburt“ keine persönlichen Erfahrungen mit jüdischen Nachbarn oder Genossen bzw. mit der NS-Vergangenheit gemacht hatten. Diese biografischen Gegensätze brachen Ende der 1960er Jahre mit radikaler Wucht auf – mit der Folge, dass die historisch vermeintlich „unschuldige“ Neue antiimperialistische Linke keine Probleme darin sah, auf der antiisraelischen bzw. antizionistischen Klaviatur zu spielen: Daraus entwickelte sich ein israelpolitischer Verantwortungsimperialismus, bei dem Israel als das schlechthin Böse halluziniert und seine Politik in eine vermeintliche Nähe zum Nationalsozialismus gerückt wurde – nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Israel trat in den neulinken Segmenten der Achtundsechziger jahrelang an die Stelle dessen, was früher „Weltjudentum“ hieß.

Interessant ist nun, dass sich in den 1980er und 1990er Jahren innerhalb der Restlinken neue politische Milieus herausbildeten, die die antizionistische Hegemonie der altvorderen Achtundsechziger immer kritischer infrage stellten und dabei ebenso israelfreundliche wie geschichtssensible Gegennarrative entwickelten. Auf diese Weise gerieten zunächst Die Grünen, später auch die Linkspartei zeitweise an den Rand einer Spaltung, als sich rivalisierende Strömungen heftige Auseinandersetzungen über ihre Haltung zu Israel und einem israelbezogenen Antisemitismus lieferten. Die Folge: Antizionistische Strömungen sind in beiden Parteien immer noch vorhanden, aber weitgehend eingehegt und entmachtet worden (bei den Grünen mehr noch als in der LINKEN).

1990 formulierten sie die hoffnungsvolle These einer linken Katharsis und prognostizierten eine selbstreflexiv-aufklärerische Entwicklung in der Linken. Ist diese Hoffnung eingetreten? Wie blicken Sie 27 Jahre später auf die antisemitismuskritische und geschichtssensible Weiterentwicklung linker Kräfte in Deutschland?

Diese Hoffnung ist – je nach Lesart und Tageslaune – nur bzw. immerhin teilweise eingetreten (siehe oben). Ich beobachte eine starke Polarisierung innerhalb der neudeutschen Linken oder was davon übriggeblieben ist. Gelähmt von den weltpolitischen Veränderungen seit 1989 ist „die Linke“ orientierungslos und zur Subkultur geworden – mit allen Symptomen der Versektung, aber auch der ideologischen Diversifizierung: Auf der einen Seite gibt es in diversen linksradikalen und autonomen Kreisen bis hinein in die Partei DIE LINKE eine orthodox-antizionistische Fraktion, die an vermeintlichen Gewissheiten des Antiimperialismus festhält, den Staat Israel unerbittlich bekämpft (Ich erinnere an die fanatischen BDS-Anhänger!) und den Antisemitismus für historisch überwunden hält; kein Wunder, dass auf dieser Seite eine geradezu pathologische Blindheit für die Wahrnehmung des aktuellen Antisemitismus in allen Segmenten unserer Gesellschaft herrscht. Auf der anderen Seite sehe ich in anderen Milieus (ob „links“, menschenrechtlich, liberal oder moralisch motiviert, sei dahingestellt) ermutigende Anzeichen einer Selbstaufklärung – eine Sensibilität für die Erkenntnis, dass a) das geschichtliche Erbe mit ihren Folgen sich nicht einfach entsorgen lässt; b) die Welt komplizierter und unübersichtlicher geworden ist und c) eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nur wenig an den schrecklichen Gewaltverhältnissen in der arabisch-muslimischen Welt ändern würde.

Wie konstituiert sich der Zusammenhang von Antisemitismus und Antizionismus in der Linken? Was meinen Sie mit der Phrase „Antizionismus als Weltanschauung“?

a) Der Schriftsteller Jean Améry hat 1969 eine These aufgestellt, die bis heute gültig ist: „Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar. Er kann ordinär reden, dann heißt das ‚Verbrecherstaat Israel’. Er kann es [aber auch] auf manierliche Art machen und vom ‚Brückenkopf des Imperialismus’ sprechen“. Insofern fungiert der Antizionismus als ein trojanisches Pferd, das das antisemitische Ressentiment aus der Schmuddel-Ecke herausholt und gesellschaftsfähig macht. Der Antizionismus hat seine Unschuld verloren, die er früher einmal gehabt haben mag. Wer nach Auschwitz – und auch angesichts gegenwärtiger Drohungen islamistischer Akteure (nicht nur des Iran) – dem Staat Israel seine Legitimität abspricht, zieht nicht nur Millionen israelischer Juden, sondern auch Diaspora-Juden den existenziellen Daseinsteppich unter den Füßen weg. Solange es Antisemitismus gibt, bleibt Israel potenzieller Rettungsanker, eine Art Versicherungspolice – unabhängig von der Zusammensetzung seiner Regierung oder der Art und Weise seines (kritikwürdigen) Regierungshandelns.

b) Antizionismus wird immer dann zur Weltanschauung, wenn seine Protagonisten in ihrem „israelkritischen“ Furor keine Zwischentöne mehr wahrnehmen. Ging es Antisemiten früherer Generationen darum, eine Welt ohne Juden zu schaffen, streben moderne Antizionisten eine Welt ohne Zionisten an. Einerlei, wie Israel handelt – es wird als imperialistisches, kolonialistisches und/oder rassistisches Regime angeprangert; empirisch Gegenläufiges – etwa die im Nahen Osten einzigartige israelische Lifestyle-Liberalität – wird mit der Kampfvokabel „Pink Washing“ gekontert. Auch linken Antizionisten geht es im Kern um die Leugnung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung – um die Infragestellung des Existenzrechts Israels als jüdischer und demokratischer Staat. Antizionisten als Weltanschauungskrieger bringen die Lösung fast aller politischen, ja weltpolitischen Konflikte mit Israel und den Juden in Verbindung. So avanciert ihr Antizionismus zum Mittel und Gegenstand umfassender Welterklärung. Die Nähe dieser Obsession zu Verschwörungsdenken liegt auf der Hand – etwa, wenn der Schriftsteller Günter Grass halluziniert, Israel könne „das iranische Volk auslöschen“ und gefährde „den Weltfrieden“. Das Phantasma jüdischer Allmacht blitzt auch in Artikeln des Publizisten und Verlegers Jakob Augstein auf: „wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen. […] die Regierung Netanjahu [führt] die ganze Welt am Gängelband.“

Sie beschreiben in Ihrer Dissertation Anzeichen eines nationalistischen „Erwachens“ und den Wunsch nach positiver nationaler Identifikation im Konflikt mit der Erinnerung an Auschwitz. Diese Prognose scheint sich im Angesicht der erstarkenden „Neuen Rechten“ heute zu bewahrheiten. Wie lassen sich diese Entwicklungen mit linkem Internationalismus in Beziehung setzen?

Ein linker Internationalismus ist das Gegenstück zum traditionellen Nationalismus der Rechten, der in der deutschen Geschichte in schrecklicher Weise ausgeufert ist. Davon mal abgesehen: Das Bedürfnis nach Heimat und Zugehörigkeit ist nicht per se verwerflich, sondern eine urmenschliche Sehnsucht, die in ausbalancierter Weise völlig legitim ist. Das internationale System der Nationalstaaten trägt diesem weitverbreiteten Bedürfnis bis heute Rechnung. Es gehört also viel Idealismus dazu, den Nationalstaat als solchen abzulehnen – etwa zugunsten einer internationalistischen Perspektive des Zusammenlebens. So sehr dieser linke Internationalismus sympathische Züge hat: Ich frage mich, warum linksdeutsche Antizionisten ihre internationalistische Vision an erster Stelle ausgerechnet am Staat Israel ausleben möchten – jenem Staat also, der den der Schoah entronnenen Überlebenden seit 1948 eine neue Heimat geboten hat. Dieselben Leute, die Israel schon kurz nach dem Sechstagekrieg am liebsten auflösen mochten, kannten zur selben Zeit keine Skrupel, sich mit der PLO als nationaler Befreiungsbewegung der Palästinenser zu identifizieren. Dieser Doppelstandard gehört zu den untrüglichen Kennzeichen eines israelbezogenen Antisemitismus. Wer von diesem moralisch getarnten Antisemitismus nicht reden will, sollte von Israel besser schweigen.

Auch eine innenpolitische Dimension gilt es in den Blick zu nehmen, um sich der Frage nach linkem Antisemitismus und -zionismus anzunähern. In welchem Verhältnis steht der linke Antisemitismus und Antizionismus zu anderen gesellschaftlichen Strömungen, wie zum Beispiel konservativen Kräften?

Antisemitismus ist kein Alleinstellungsmerkmal einer bestimmten Strömung – diese soziale „Krankheit“ findet in allen gesellschaftlichen Milieus ihr Biotope: links wie rechts, oben wie unten. Positiv gewendet heißt das aber auch: Es gibt auch außerhalb der Linken potenzielle Bündnispartner im Kampf gegen die verschiedenen Ausprägungen von Menschenfeindlichkeit. Der Widerstand gegen die Kräfte der Barbarei kann nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung linker und konservativer, christlicher und jüdischer sowie gewerkschaftlicher und wirtschaftsnaher Kräfte erfolgreich zurückgewiesen werden – auch das gehört zur Wirklichkeit einer Dialektik der Aufklärung. Alles zu tun, „damit Auschwitz nicht noch einmal sei“, ist das von Theodor W. Adorno überlieferte Vermächtnis an die deutsche und europäische Zivilisation. Für eine geschichtsbewusste Linke bedeutet dies, ihre Berührungsängste abzubauen und eine Koalition der Vernunft und der Menschlichkeit gegen die Barbarei des Antisemitismus schmieden zu helfen. Die Hoffnung auf eine geschichtsimmanente Utopie braucht die Linke zwar nicht gänzlich aufgeben; doch auf der Agenda stehen heute sehr viel bescheidenere Ziele: die Bewahrung demokratischer Grund- und Menschenrechte, die Achtung der Würde jedes Einzelnen und das Recht, ohne Angst verschieden sein zu dürfen.

Wie würde eine Linke agieren, die sich das „Lernen aus der Vergangenheit“ in einem umfassenden Sinne zur Devise macht? Welche gesellschaftliche Rolle kann die deutsche Linke angesichts ihrer von Antisemitismus geprägten Geschichte heute noch einnehmen?

Gregor Gysi, als gelernter Marxist und DDR-Bürger wahrlich kein Achtundsechziger, bekannte 2006: „Die Gedanken- und Gefühlswelt in Bezug auf Israel und die arabischen Länder ist in meiner Generation unklar, wirr und widersprüchlich.“ Offenbar haben wir hier ein gesamtdeutsches Problem: Ein Brückenschlag auf dem Weg zur dringend erforderlichen Selbst-Aufklärung könnte die Erkenntnis sein: Wenn Deutsche und auch Linke über Juden, Israel und Zionismus sprechen, reden sie immer auch über sich selbst – viele ihrer Sprüche und Parolen künden von historisch bedingten Entlastungsbedürfnissen und Schuldabwehr-Projektionen. Die Anerkennung der Tatsache, dass der Antisemitismus – auch in seiner israelbezogenen Variante – eine schwärende Wunde in der deutschen Gesellschaft ist, kann therapeutisch heilsam sein, wenn sie in ein zielgerichtetes Engagement mündet – ganz im Sinne des Böckenförde-Theorems über die existenzielle Notwendigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Was aber können wir tun? Über Antisemitismus in seiner Breite aufklären und die Judenfeinde in unserer Mitte ächten: Aufklären und ächten ist die ständige Sisyphus-Arbeit! Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass in unserer Mitte Judenfeinde ihre Stimme erheben, offen oder verdeckt. Klare pädagogische Maßnahmen in Schule und medialer Öffentlichkeit sind kein Allheilmittel, aber alternativlos – ein unvollkommenes Bollwerk gegen die Barbarei. 1933 hat unser Land keine solchen Barrieren gehabt – die politischen, religiösen und erzieherischen Akteure des Landes waren selbst von Ressentiments erfüllt. Heute gibt es ein Netz von demokratischen Einrichtungen, Stiftungen, Volkshochschulen, allgemeinbildenden Schulen – mit Lehrkräften und Lehrplänen, die zur Stärkung freiheitlicher und demokratischer Werte wie Zivilcourage beitragen können. Nutzen wir diese Chancen, auch wenn es niemals Erfolgsgarantien geben wird!

Das jahrtausendealte Phänomen der Judenfeindschaft in seinen vielfältigen Ausprägungen reicht tiefer als jede Alltagsdiskriminierung bzw. jedes Vorurteil. Henryk M. Broder, der neben manch Kritikwürdigem immer wieder auch Hellsichtiges von sich gibt, sagte 2008 vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages: „Der Antisemit nimmt dem Juden nicht übel, wie er ist und was er tut, sondern dass er existiert. Der Antisemit nimmt dem Juden sowohl die Abgrenzung wie die Anpassung übel. Reiche Juden sind Ausbeuter, arme Juden sind Schmarotzer […]. Der Antisemit nimmt dem Juden prinzipiell alles übel, auch das Gegenteil. Deswegen bringt es nichts, mit Antisemiten zu diskutieren, sie von der Absurdität ihrer Ansichten überzeugen zu wollen. Man muss sie ausgrenzen, sie in eine Art sozialer Quarantäne isolieren. Die Gesellschaft muss klarmachen, dass sie den Antisemitismus und den Antisemiten verachtet, so wie sie die Prügelstrafe als Mittel der Erziehung und die Vergewaltigung […] verachtet, wohl wissend, dass sie nicht alles kontrollieren kann, was hinter zugezogenen Gardinen und unter vier Augen passiert.“

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Karikaturen:

„Nazisrael“. Aus: Die Revolution. Al Thaura. Organ des Palästina-Komitees Bonn, Nr. 4, Nov./Dez. 1971)

„Onkel Henry“.In: Arbeiterkampf, Nr. 55, 28.1.1975.

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