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Volksgesundheit – Ein Rückblick auf sechs Monate Coronademonstrationen in Berlin

In späteren Rückblicken auf das Jahr 2020 wird vermutlich kein Thema so sehr im Vordergrund stehen wie das der Pandemie durch das Coronavirus SARS-CoV-2. Die schnelle globale Verbreitung des Virus hat die Weltgemeinschaft vor Aufgaben gestellt, die für die meisten Menschen sehr plötzlich eine völlig neue Lebensrealität mit massiven Einschränkungen und unbekannten Komplikationen bedeuten. Diese globale Naturkatastrophe stellte die weltweite Politik vor große Herausforderungen, nicht zuletzt da politische, soziale, psychologische und wissenschaftliche Erfahrungswerte fehlten, an denen sich orientiert werden konnte. Immer noch ist Vieles über das Virus unbekannt, sind die Langzeitfolgen schwer erklärbar, ist nicht abzusehen, wann mit einem Impfstoff zu rechnen ist und wann zu einem Leben zurückgekehrt werden kann, das nicht durch kontaktbeschränkende Maßnahmen geprägt ist.

Vielen Menschen mag die Zeit, in der sich das Leben in geselligen Bars und Restaurants, in Kinos und auf großen Konzerten, in engen Partykellern und auf öffentlichen Feiern abspielte, weit entfernt vorkommen – und der Gedanke, dass dieses Leben auf unbekannte Zeit ausfällt oder nur sehr eingeschränkt stattfinden wird, ist unbehaglich – zumal mit Beginn des Herbstes auch in Deutschland die Infektionszahlen wieder auf ein Niveau gestiegen sind, das an den vorläufigen Höhepunkt des Ausbruchs im März und April 2020 erinnert. Es ist mit neuen politischen Maßnahmen zu rechnen, und obwohl diese vielleicht nicht die Strenge des ersten Halbjahres erreichen werden, ist die Zukunft ungewiss und könnte es auch in Deutschland Zahlen wie in Frankreich und Spanien geben, wo zuletzt knapp 15.000 bestätigte Neuinfektionen pro Tag registriert wurden.

Bei der Coronapandemie von einer globalen Krise unbekannten Ausmaßes zu sprechen klingt nahezu sensationistisch, aber um nichts Anderes handelt es sich. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Krise bei den meisten Menschen, obschon in unterschiedlichen Ausmaßen, dennoch mehr oder weniger durchgängig zu körperlicher und psychischer Überforderung und Ratlosigkeit führt. Und es ist wiederum nur menschlich, krisenhafte Zustände überwinden zu wollen, seien das nun innerpsychische Konflikte oder externe Probleme wie beispielsweise Verluste oder eine Mischung aus beidem.

Leider ist es aber auch so, dass manche Lösungsmöglichkeiten von Krisen zwar geeignet sein mögen, Krisenmomente temporär erträglicher zu machen, dabei allerdings insgesamt nicht nachhaltig und adäquat mit der lebensweltlichen Situation umgehen – und im schlimmeren Fall sogar mehr schaden als nützen.

Seit März 2020 beobachtet das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. ein ganz konkretes Phänomen der Coronapandemie, das man als ungenügende Krisenbewältigung beschreiben könnte: die so genannten Coronaproteste. Zunächst waren diese unter dem Label ‚Hygienedemos‘ in Erscheinung getreten, die durch den neu gegründeten Verein ‚Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand‘ (KDW) ins Leben gerufen wurden. Später wurde dieses Label fallen gelassen und in der Berichterstattung meist pauschal von ‚Coronaprotesten‘ gesprochen. Die KDW besteht bis heute als Zusammenschluss, zu deren Kern von Anfang an Anselm Lenz, Batseba N’Diaye und Hendrik Sodenkamp zählen, die einen in der Tendenz eher linksliberalen und kapitalismuskritischen Hintergrund haben. Auf der Webseite nichtohneuns.de und in der regelmäßig erscheinenden kostenlosen Zeitschrift „Demokratischer Widerstand“ stellten sie zusammen mit wechselnden Gastautor:innen die Coronamaßnahmen der Bundesregierung als Vorstufen einer zukünftigen Hygienediktatur dar, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen sukzessive die Verfassung abschaffen sollten. Die Maßnahmen wurden durch den Verein weiterhin als verfassungswidrig deklariert, wiederholt wurde zu verfassungsgebenden Vollversammlungen aufgerufen, um den ‚Volkswillen‘ durchzusetzen und die bestehende Demokratie abzuschaffen.

Die Teilnehmenden der Hygienedemos rekrutierten sich von Anfang an aus einem breiten Spektrum: Von politisch eher unorganisierten Einzelpersonen, die keinem bestimmten Spektrum anzugehören schienen, über Heilpraktiker:innen und Anhänger:innen der alternativen Medizin, Impfgegner:innen, verschwörungsideologischen Einzelpersonen aus dem linken, schwerpunktmäßig allerdings aus dem rechten politischen Spektrum sowie Personal aus der rechtsextremen und neonazistischen Szene. Diese Mischung hat viele Beobachter:innen dazu bewogen, hier von einer neuartigen Querfront zu sprechen; das JFDA hat diesen Begriff ebenfalls übernommen, da sich die KDW als eher dem linksalternativen Spektrum zugehörig als Organisatorin der ersten Hygienedemos (abgesehen von wenigen punktuellen und konsequenzlosen Ausnahmen) nie explizit von Rechtsextremen distanzierte: Einzelpersonen wie der rechtsextreme Holocaustleugner Nikolai Nerling, auch bekannt als ‚Volkslehrer‘, die rechtsextreme ‚Patriotic Opposition Europe‘ nahmen wiederholt an den Coronademonstrationen teil, wiederholt wurden von Teilnehmenden der Proteste holocaustrelativierente und rechtsextreme Symbole verwendet. Besonders verstörend wirkten dabei Versuche, durch die Verwendung eines gelben Davidsterns, in dem das Wort ‚ungeimpft‘ stand, einen Bezug zu jüdischen Opfern der nationalsozialistischen antisemitischen Vernichtungspolitik herzustellen.

Im weiteren Verlauf wurden die Demonstrationen vermehrt von rechten und rechtsextremen Verschwörungsideolog:innen bis hin in die Reichsbürgerszene (am prominentesten vertreten durch Rüdiger Hoffmann) aufgesucht bzw. wurden die coronaskeptischen Inhalte der Hygienedemonstrationen auch in diesen Kreisen affirmativ aufgegriffen. Es wurden immer größere Überschneidungen von Anticoronademonstrant:innen und bspw. Reichsbürgerkundgebungen deutlich. Als ein Angelpunkt fungierte hier die regelmäßig stattfindende Kundgebung Rüdiger Hoffmanns unter dem Label ‚staatenlos‘, von der aus am 29.08. durch mehrere hundert Personen ein versuchter spontaner Einbruch in das Bundestagsgebäude ausging. Die Bilder von Reichsflaggen auf den Stufen des ehemaligen Reichstagsgebäudes gingen um die Welt.

Auch bisher politisch kaum in Erscheinung getretene Einzelpersonen radikalisierten sich im Verlauf der Proteste, das bekannteste Beispiel ist hier sicherlich der Kochbuchautor und Imbissbetreiber Attila Hildmann, der öffentlich holocaustrelativierende und weitere Gewaltfantasien gegen Politiker:innen wie Volker Beck aussprach. Ebenfalls formierte sich mit „Querdenken 711“ in Stuttgart ein neues bundesweites Bündnis, das den Coronaprotesten im Sommer 2020 zu einem neuen massenwirksamen Aufschwung verhalf. Nachdem es zwischenzeitlich so aussah, als ob die Demonstrationen nach immer geringerer Teilnahme in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden drohten, erreichte die Bewegung am 29.08.2020 ihren vorläufigen Höhepunkt.

So verschob sich im Verlauf der letzten Monate die Querfront insgesamt eher nach rechts, blieb allerdings immer ein diffuser Zusammenhang, der sich nicht pauschal als rechts oder rechtsextrem beschreiben lässt. Vielmehr werden die politisch diversen Coronademonstrant:innen durch zwei zentrale Aspekte miteinander vereint: ihr Glauben an Verschwörungsmythen und ihr antidemokratisches und antiparlamentarisches Ressentiment. Letzteres speist sich aus der Vorstellung, dass die Coronamaßnahmen nicht rechtens seien und den ‚Volkswillen‘ nicht repräsentieren, weswegen die bestehende demokratische Ordnung durch eine neue plebiszitäre Politik ersetzt gehörte. Verschwörungsideologisch zeigen sich die meisten der Organisator:innen und Teilnehmenden einig in ihrer konspirativen Deutung der Coronakrise: Geheime Mächte oder konkrete Einzelpersonen wie Bill Gates oder George Soros wurden durch die Coronademnonstrant:innen wiederholt beschuldigt, die eigentlichen Drahtzieher hinter der Pandemie zu sein. Immer wieder mischten sich in diese Begründungsversuche auch antisemitische Narrative.

Am kommenden Wochenende, 02. bis 04. Oktober 2020, hat die Querdenken-Bewegung zusammen mit der KDW erneut zu Protesten aufgerufen. Am 03. Oktober mobilisiert auch die rechtsextreme Partei „Der III. Weg“ zu einer Demonstration in Berlin Hohenschönhausen. Es ist davon auszugehen, dass es personelle Überschneidungen der einzelnen Teilnehmer:innen geben wird.

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