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„Versammlung für die Freiheit“: Übergriffe auf Presse, Missachtung von Auflagen, 300 Festnahmen

Am Samstag, den 29.08.2020 waren in Berlin mehrere Veranstaltungen angemeldet, die sich gegen die Coronamaßnahmen der Bundesregierung richteten. Die Stuttgarter Initiative „Querdenken711“ und ihr Anmelder Michael Ballweg hatten eine Kundgebung und eine Demonstration unter der offiziellen Bezeichnung „Versammlung für die Freiheit“ angemeldet. Des Weiteren fand vor dem Reichstagsgebäude eine Kundgebung aus dem Reichsbürger-Spektrum statt. Insgesamt nahmen nach ersten Schätzungen mehr als 30.000 Menschen an den Veranstaltungen teil. So sprach Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) von 38.000 Teilnehmer:innen.

Aufgrund der Nichteinhaltung von Auflagen und Abstandsregelungen wurde zunächst die in der Friedrichstraße startende Demonstration um 12:53 Uhr durch die Einsatzleitung der Polizei offiziell aufgelöst. Dabei und im weiteren Verlauf des Tages kam es vereinzelt zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant:innen. Insbesondere vor der Botschaft der Russischen Föderation, vor der überwiegend Rechtsextreme demonstrierten, kam es vermehrt zu körperlichen Übergriffen sowie Flaschenwürfen auf Beamte. Die Polizei nahm daraufhin mehr als 200 Demonstrant:innen fest, unter ihnen der Imbissbetreiber und Verschwörungsideologe Attila Hildmann. Schließlich räumte die Polizei den Platz vor der Russischen Botschaft. Die Kundgebung auf der Straße des 17. Juni konnte hingegen ohne Maßnahmen der Polizei durchgeführt werden. Insgesamt nahm die Polizei am 29.08.2020 ca. 300 Demonstrant:innen fest.

Bereits im Vorfeld hatte es ein juristisches Hin und Her gegeben: Am Donnerstag, den 27.08. gab Innensenator Geisel bekannt, dass die Veranstaltungen am Wochenende aufgrund der zu erwartenden Nichteinhaltung der bestehenden Coronamaßnahmen untersagt würden. Der Veranstalter ging dagegen juristisch vor – und bekam vom Berliner Verwaltungsgericht Recht. Eine Beschwerde der Berliner Polizei vor dem Oberverwaltungsgericht blieb erfolglos.

Die Absage der Demonstration hatte in den sozialen Netzwerken unter Coronademonstrant:innen für Wut und Empörung gesorgt, nicht selten wurden Gewaltandrohungen und -fantasien formuliert – bis hin zum Aufruf, von Waffen Gebrauch zu machen. Bedenklich erschien zudem, dass einige Accounts vorgaben, trotz positiver COVID-19-Diagnose an den Protesten teilnehmen zu wollen, teilweise auch, um Polizeibeamte oder Gegendemonstrant:innen gezielt anzuhusten und damit anzustecken.

Inhaltlich wandten sich die Demonstrationen erneut diffus gegen die Coronamaßnahmen der Bundesregierung. Befürchtet wurden eine Art biopolitisch-technokratische Diktatur mit „Verchippungsprogrammen“, der Ausschaltung von Kritiker:innen und totaler Überwachung im Stile einer „New World Order“ – Szenarien, die vermutlich an dystopische Literatur-Klassiker wie George Orwells „1984“ erinnern sollten (ein Werk, auf das im Kontext der Demonstrationen immer wieder mahnend verwiesen wird) und sich dabei mit dem Begriff „New World Order“ bzw. dem Code „NWO“ auf einen antisemitischen Verschwörungsmythos beziehen, nach dem im Geheimen operierende Eliten für ihre Zwecke eine autoritäre Weltregierung einrichten wollten.

Aufgrund des breiten Spektrums der Teilnehmenden ist es allerdings (erneut) schwierig, konkrete Ziele der Veranstaltungen zu benennen. Abgelehnt werden eine Reihe von Sachverhalten wie einerseits die Coronamaßnahmen der Bundesregierung, andererseits die bestehende Ordnung der Bundesrepublik als solche. Diverse Personen zeigten auf Plakaten oder Kleidungsstücken offen antisemitische Codes und Symbole, mehrmals trugen Demonstrant:innen den sogenannten „Judenstern“, um sich in eine Reihe mit dem jüdischen Opfern des Nationalsozialismus zu stellen – womit sie die Shoah relativierten.

Das Spektrum der Teilnehmenden gestaltete sich mehr oder weniger wie auf vergleichbaren Veranstaltungen in der Vergangenheit: Es reichte von pro-amerikanischen und pro-russischen Demonstrant:innen über reichsbürgernahe Kreise und nicht eindeutig zuordenbare Einzelpersonen bis hin zu hippiesk-esoterischen, friedensbewegten, verschwörungsideologischen, rechtspopulistischen sowie rechtsextremen Kreisen. Letztere waren nicht zuletzt aufgrund einer starken Mobilisierung der rechtsextremen Szene aus der gesamten Bundesrepublik zahlenmäßig noch stärker vertreten als in den vergangenen Monaten. Bekannte Einzelpersonen, die gesichtet wurden, waren u.a. der völkische Rechtsextreme Nikolai Nerling (bekannt als „Volkslehrer“), Reza Begi (der in der Vergangenheit durch die Verbreitung von klassischem Antisemitismus auffiel), Martin Sellner (Kopf der Identitären Bewegung Österreich), Jürgen Elsässer (Chefredakteur des verschwörungsideologischen Compact-Magazins), Udo Voigt (NPD) und Rüdiger Hoffmann (verurteilter ehemaliger NPD-Kader und Betreiber des Portals „staatenlos.info”).

Auch kam es am 29.08.2020 wiederum zu Übergriffen auf Pressevertreter. So wurde ein Mitarbeiter des Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus während einer Rede Attila Hildmanns, die dieser auf der von Rüdiger Hoffmann vor dem Reichstagsgebäude durchgeführten Veranstaltung hielt, bedrängt und tätlich angegriffen. Dabei wurde gegen die Kamera des JFDA-Pressevertreters geschlagen, so dass ein Mikrofon zu Boden fiel. Der Mitarbeiter des Jüdischen Forums musste sich daraufhin auf Grund der aggressiven Stimmung gegen die Presse von der Kundgebung entfernen und konnte seiner Arbeit an diesem Ort nicht weiter nachkommen. Bereits im Vorfeld der Kundgebungen am 29.08.2020 hatte es aus der rechten Szene heraus auch Gewaltaufrufe gegen antifaschistische Gegendemonstrationen gegeben.

Am frühen Abend stürmte eine größere Anzahl von überwiegend rechtsextremen Personen unter dem Motto „Sturm auf den Reichstag“ aus der Kundgebung Rüdiger Hoffmanns heraus die Stufen des Reichstagsgebäudes. Zahlreiche Teilnehmer:innen konnten zunächst bis kurz vor die Türen des Parlamentsgebäudes vordringen, bis sie von Polizeibeamten gestoppt und zurückgedrängt wurden. Die Szene wirkte erschreckend, da die Polizei auf einen solchen Ansturm nicht vorbereitet schien und zunächst nur mit wenigen Beamten den Sitz des Deutschen Bundestages schützen musste. Unter den Kundgebungsteilnehmer:innen löste dieser Ansturm euphorischen Jubel aus.

Auffällig war zudem die Häufung von Symbolen der rechtsextrem-verschwörungsideologischen QAnon-Bewegung. Die QAnon-Bewegung, die ihre Wurzeln in den USA hat, glaubt daran, dass US-Präsident Trump mit seiner Politik einen Kampf führt gegen ein vermeintliches geheimes Netzwerk aus führenden amerikanischen Politiker:innen der Demokratischen Partei wie Hillary Clinton und Barack Obama sowie wirtschaftlichen Eliten wie dem ungarisch-amerikanischen Investor George Soros. Dieses würde, so die QAnon-Anhäger:innen, einen Kinderhandel-Ring betreiben, um seinen Opfern den Stoff „Adrenochrom“ zu entnehmen, der ewige Jugend verleihen würde – eine absurde, aber gefährliche Wahnfantasie, die den antijüdischen Glauben an die sogenannte Ritualmordlegende des Mittelalters in das 21. Jahrhundert überträgt. Der Buchstabe „Q“, der als Code für den QAnon-Mythos steht, wurde an diesem Samstag auch von Teilnehmer:innen der „Querdenken“-Initiative auf T-Shirts getragen.

Außerdem wurden mehrere Politiker der AfD und der Jungen Alternative gesichtet, der AfD-Landesverband Berlin verteilte Flyer mit dem Satz „Danke, dass Sie heute hier sind“ und einem Text, in dem das ursprüngliche Verbot der Veranstaltungen als „Anschlag auf die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger“ bezeichnet wurde. Bisher ist im Übrigen nicht bekannt, dass es ähnliche Positionierungen der AfD beispielsweise nach dem Verbot der Demonstration zum Gedenken an den Anschlag von Hanau durch den Oberbürgermeister der Stadt am Main gegeben hat.

Was lässt sich also resümierend festhalten? Obschon der 29.08.2020 zahlenmäßig wohl alle bisherigen Coronademonstrationen übertrumpfte, muss doch betont werden, dass die Bewegung inhaltlich weiterhin stagniert und nichts Neues hervorbringt. Nachdem die Coronademonstrationen vor einiger Zeit bereits kurz davor waren, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, haben sie offenbar durch die Initiative „Querdenken711“ zahlenmäßig einen neuen Aufschwung erfahren. Dennoch: Inhaltlich ist das die bekannte zähe Melange aus antidemokratischem Ressentiment, autoritärem Strafbedürfnis, Sehnsucht nach einem völkisch-regressiven Auf- und Umbruch, irrationaler Faktenresistenz, Presse- und Wissenschaftsfeindlichkeit, sprich: Aufklärungsfeindlichkeit und Selbstaufwertung durch das vermeintliche Wissen, zu einer erleuchteten Gruppe zu gehören.


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